heute in hamburg: „Von der Seele geschrieben“
Verdrängung Peter Koletzki liest über seine Mutter, die 1945 mit ihm aus Posen nach Hamburg floh
73, lebt seit 1948 in Hamburg, war bis 2010 Schiffsmakler und schreibt zurzeit an der Fortsetzung seines Buches.
taz: Herr Koletzki, im Nachwort Ihres Buches schreiben Sie, Sie hätten Ihrer Mutter vergeben. Wofür?
Peter Koletzki: Meine Mutter ist durch die Erfahrungen ihres Lebens beschädigt worden, sie war schwer alkoholkrank. Mit zehn, elf Jahren habe ich bemerkt, dass meine Mutter anders war als andere Mütter. Als kleiner Junge möchten Sie von Ihrer Mutter beschützt werden und ich musste stattdessen meine Mutter beschützen.
Erinnern Sie sich an konkrete Erlebnisse?
Ja, ganz intensiv. Wenn sie nach Hause kam und ihr Fahrrad schob, wusste ich: Das wird nichts mehr. Dann habe ich sie nach Hause und auch manchmal ins Bett gebracht. Manchmal habe ich sie säubern müssen. Das sind alles so schlimme Dinge.
Hat sich Ihre Einstellung zu Ihrer Mutter durch das Buch geändert?
Ja. Die Überschrift sollte ursprünglich lauten: „Abrechnung mit einer Mutter“. Ich habe meine Wut und meinen Frust in die Tasten gehauen, bis ich nach fünfzig Seiten das Gefühl hatte, ich bin gegen eine Mauer gefahren. Da habe ich angefangen, mich richtig mit ihrem Leben zu beschäftigen. Heute habe ich ein sehr gutes Bild von ihr.
Haben Sie für dieses Bild weiter an dem Buch gearbeitet?
Auch für mich selbst. Ich habe mir vieles von der Seele geschrieben.
Gab es Dinge, die Sie nicht herausfinden konnten?
Ich habe viel in Zeitungen aus Posen aus den Vierzigerjahren und in Büchern recherchiert, um die wirtschaftliche, politische und soziale Situation in dieser Zeit zu verstehen. Das Buch ist schon realistisch, aber an vielen Stellen habe ich mir dichterische Freiheiten erlaubt, weil meine Mutter darüber nicht geredet hat. Eine Mutter erzählt ihrem Sohn nicht, dass sie vergewaltigt wurde – das habe ich später auf anderem Wege erfahren.
Hatten Sie Momente, an denen Sie nicht weiterkamen?
Hin und wieder hatte ich Blockaden, zum Beispiel: Meine Mutter lernt meinen Vater kennen und er besucht sie in ihrer Wohnung. Man kann sich natürlich vorstellen, dass es möglicherweise zu einer intimen Situation kommt. Als Sohn und unter Beeinflussung von „Fifty Shades of Grey“ fühlte ich mich da ein bisschen überfordert. Am Ende steht sie einfach auf, nimmt seine Hand und sagt: „Komm.“ Das genügt doch, oder? Aber dafür habe ich zehn Tage gebraucht.
Interview Lena Eckert
Autorenlesung „Das Leben der Ursula Schulz“: Bücherhalle Osdorfer Born, 16–18 Uhr
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