Die Wahrheit: Träumen und hoffen
Kollektive Warteschleife: „Cowaiting-Spaces“ erobern die Republik. Arbeitslose sitzen neben Rentnern, Geflüchtete neben Unfallverletzten.
Auf dem Fußboden des geräumigen Flurs liegen ein paar quietschbunte Sitzsäcke. Hölzerne Stühle stehen an der Wand, hier und da auch ein paar Zimmerpalmen. In den Regalen, die den Empfangstresen säumen, türmen sich Geduldsspiele, Malpapier, Zeitschriften. Der Flur ist das Herzstück des Gebäudes, der „Wartburg 311“, einem angesagten Cowaiting-Space in Hamburg, dem größten der Hansestadt.
Cowaiting, das bedeutet: Menschen mieten sich in einem Büro ein, um gemeinschaftlich zu warten, ob kollaborativ oder stumm nebeneinander, Hauptsache, nicht allein. Die Miete beträgt pro Stunde 79 Cent, pro Tag 5,99 Euro, wenn man einen hölzernen Stuhl bucht. Sitzsäcke, Lounge-Sessel und ein eigener Wartetisch kosten extra. Im Gegenzug gibt es ein warmes Plätzchen, Sozialkontakte, kostenloses WLAN und Leitungswasser satt. Sowie tolle Gemeinschaftsangebote, von der Yoga-Stunde am Dienstagnachmittag im lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum bis zur kostenlosen Strohrum-Verkostung mit der ganzen Community.
In Hamburg wird das Konzept gut angenommen. Die vier Büroräume der „Wartburg 311“ sind voll. Arbeitslose warten neben Rentnern, Geflüchtete neben Unfallverletzten. Die Community ist bunt gemischt. „Die Heterogenität ist ein Plus. Ich bin gerne hier“, schwärmt Marie. Die arbeitslose Grafikerin, seit fünf Monaten ohne Aufträge, kommt dreimal pro Woche hierher, schreibt Bewerbungen, trinkt Pulver-Latte-macchiato, den es hier günstig gibt. Sie könnte auch zu Hause warten, sagt sie, doch der Wunsch nach Trennung von Privatleben und Warten auf Jobs sei stärker.
Im Sitzkreis mit Lounge-Musik
So wie Marie fühlen sich hier viele. „Zu Hause drehe ich nur durch – hier Daumen im Sitzkreis zu Lounge-Musik“, freut sich, drei Stühle weiter, ein arbeitsloser Pizza-Taxifahrer, ehe er wieder auf Lieferando und Foodora schimpft, im Flüsterton, um niemanden zu stören.
Viele kennen sich untereinander. Viele warten schon lange: Auf einen neuen Job, auf grünes Licht für den Deutschlernkurs, auf den in Stalingrad verschollenen Vater, Godot oder einfach auf den Tod.
So wie Mechthild aus Norderstedt. „Seit 17 Jahren wart ich schon auf den, und er will und will nicht kommen“, muffelt die 93-jährige Pensionärin. Seit zwei Jahren kommt sie fast täglich hierher. „Was soll ich denn allein zu Hause warten?“, fragt sie und klaubt einen Bagelkrümel von ihrem Faltenrock. „Zu Hause damle ich doch nur rum und pfeife mir Kochsendungen rein. Warum soll ich die Mattscheibe oder junge Leute aus dem Fenster anglotzen, wenn ich hier neben denselben Leutchen drolliges Hefeteiggebäck mit Loch drin futtern kann?“, fragt die Rentnerin und knufft einen jungen Mann gegen Schulter.
Besser auf das Nichtstun konzentrieren
Sein Name ist Sami, er ist 27 Jahre alt, kommt aus dem Irak. In Mossul hat er Ingenieurswesen studiert, hier tut er Gleiches mit der Holzverkleidung der Decke. Sein Blick ist ernst, beinahe kontemplativ. Seit 15 Monaten wartet er auf die Bewilligung seines Deutschkurses sowie eine Arbeitserlaubnis. Sein Blick ist hochkonzentriert. „Für mich ist der Kontextwechsel sehr wichtig. Hier kann ich mich besser auf das Nichtstun konzentrieren als in der Flüchtlingsunterkunft“, resümiert er in perfektem Englisch.
Schräg gegenüber scharrt ein Typ im zerschlissenen Karo-Jackett mit den Füßen und beginnt, einen Witz zu erzählen. „Pssst! Konversation nur im oberen Floor“, mahnt Marten, einer der drei „Manager“, den Quatschkopf zur Ruhe an. Oben sei Plauschen und Vernetzen, unten Ruhe und Dösen, so seien die Regeln.
„Warten ist komplizierter geworden, ja richtiggehend komplex“, wird Marten später nach Dienstschluss bei einer Zigarette den Cowaiting-Gedanken erläutern: „Cowaiting-Spaces schaffen da Abhilfe. Es geht darum, für die Menschen Strukturen zu schaffen, Routine sowie geregelte Rahmenbedingungen.“
Der erste globale Anbieter auf dem Markt
Seit drei Jahren existieren in Deutschland Cowaiting-Spaces, doch jetzt gibt es Umwälzungen, jetzt drängt mit der US-amerikanischen Kette „WeWait“ erstmals ein globaler Anbieter in die deutschen Städte, bereit, den Markt richtig abzumelken. „WeWait“ gibt sich noch loungiger, noch exquisiter, noch kollaborativer. Ihr Slogan „We dream. We hope. WeWait“ kommt vor allem jungen, perspektivlosen Kreativen gut an. „Sei ein Teil einer Community!“, heißt es auf WeWait.com, und: „WeWait ist ein Ort, an dem das ICH Teil eines größeren WIR wird. Ein Ort, an dem wir Misserfolg neu definieren!
Driiing, Driiing, eine Eieruhr schrillt. 18 Uhr ist es jetzt in der beliebten „Wartburg 311“. „Feierabend!“, ruft Manager Marten durch sämtliche Räume. Zeit, nach Hause zu gehen, den eigenen Tisch gründlich aufzuräumen, sofern man einen gemietet hat. „Clean Desk Policy“ heißt das im Fachjargon, sonst kostet es mehr. Müde und ausgelaugt verlässt die Community das Büro. Manche winken einander noch nach: „Bis Morgen!“, wenn sich die gläsernen Tore wieder öffnen, um Punkt 9.30 Uhr.
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