Vorstandswahl bei der Lebenshilfe: Auf dem Weg an die Spitze
Für Träger der Behindertenhilfe ist Inklusion Programm. Doch in ihren Leitungsgremien sitzen kaum Menschen mit Beeinträchtigung. Das könnte sich jetzt ändern.
Christian Specht ist meinungsstark. Der 48-Jährige kann wegen einer Lernschwierigkeit zwar nicht lesen und schreiben, trieb sich aber jahrelang in der politischen Szene Kreuzbergs herum. Auch in der Redaktion der taz geht Specht ein und aus. In letzter Zeit konzentriert er sich auf die Behindertenpolitik, fordert etwa eine Behindertenvertretung im Rundfunkrat des RBB. Wenn sich Specht etwas in den Kopf gesetzt hat, dann lässt er so schnell nicht locker: Er sammelt Unterschriften, macht bei PolitikerInnen Druck, hakt nach.
Jetzt hat Specht wieder große Pläne: Er will bei der Berliner Lebenshilfe, die Menschen mit Behinderungen betreut und bei der auch er selbst Klient ist, im Vorstand mitmischen. Am Samstag wird das Gremium neu gewählt. Specht kandidiert für einen von fünf Sitzen.
Die Berliner Lebenshilfe kümmert sich um knapp 5.000 Menschen mit Behinderung, etwa in Wohngemeinschaften, im betreuten Einzelwohnen oder in Tagesstätten. „Wir erbringen qualitativ hochwertige Dienstleistungen zur Verwirklichung von Inklusion, Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe“, wirbt der Träger im Netz für sich. Von den 1.800 Mitarbeitenden haben nach Angaben der Lebenshilfe rund 140 selbst eine Beeinträchtigung. Eltern von Betreuten sind im Vorstand vertreten. Jemanden, der selbst eine Behinderung hat, gab es auf der Leitungsebene bislang aber noch nie.
Bei anderen Trägern der Berliner Behindertenhilfe, etwa dem Unionhilfswerk oder der Spastikerhilfe, sieht es nicht anders aus. Die Spastikerhilfe befinde sich bei dem Thema im Diskussionsprozess, sagt ein Sprecher. Doch wer, wenn nicht die Träger der Behindertenhilfe, sollte Inklusion auch auf oberer Ebene umsetzen? Oder kommt das Konzept, wenn es um Führungsgremien geht, doch an seine Grenzen?
Als Mitglied des Vorstands der Lebenshilfe wäre Specht voll stimmberechtigt und könnte auch wirtschaftliche Richtungsentscheidungen mit treffen. Traut man ihm diese Verantwortung zu? Kann das funktionieren? Diese Fragen sorgen in der Berliner Lebenshilfe angesichts der Wahl für Diskussionen.
„Christian ist unfassbar engagiert“, sagt Robin Hartkopf vom Berliner Rat, einem Gremium, in dem sich beeinträchtigte KlientInnen innerhalb der Lebenshilfe vernetzen. Hartkopf und KollegInnen unterstützen Spechts Pläne, sie tippten seine Bewerbung und halfen ihm, seine konkreten Vorhaben im Vorstand auszuformulieren.
„Ich will bewusst machen, dass Menschen mit Behinderung integriert werden. Da muss man immer und immer wieder Druck ausüben“, sagt Specht. Er werde auch die Selbstvertreter innerhalb der Lebenshilfe unterstützen und zudem mehr Frauen auf diese Posten holen. Konkret fordert er, dass Vorstandssitzungen nicht im Lebenshilfe-Büro, sondern jedes Mal in einer anderen Behinderteneinrichtung stattfinden, um den Kontakt zu den KlientInnen zu stärken.
Die Berliner Lebenshilfe freue sich über die Kandidatur von Christian Specht, sagt deren Sprecherin, Christiane Müller-Zurek. „Wenn wir Inklusion ernst nehmen, können wir uns nicht selbst davon ausnehmen.“ Ein Kandidat mit Behinderung sei eine Bereicherung, weil er die Perspektive der Betroffenen in die Vorstandsarbeit einbringe.
Auf Bundesebene gibt es das bei der Lebenshilfe bereits: Dort arbeiten zwei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Vorstand mit. Wichtig sei die Verwendung von leichter Sprache, um komplexe Inhalte vermitteln zu können, sagt Müller-Zurek. Specht müsse zudem unterstützt werden. „Assistenz ist eine Voraussetzung dafür, dass Christian Specht im Vorstand tätig werden kann.“
Wie aber lässt sich gewährleisten, dass der oder die Assistentin Specht neutral berät und nicht lenkt? „Für uns ist entscheidend, dass keiner diese Aufgabe übernimmt, der bei der Lebenshilfe angestellt ist“, sagt Müller-Zurek. Eine externe Person müsse Specht unterstützen, wenn er gewählt werde. Unter den sieben Kandidaten, die am Samstag antreten, ist ein weiterer mit Behinderung, einer körperlichen: Stefan Lippianowski sitzt im Rollstuhl, seine Motorik und Sprache sind stark beeinträchtigt. Sollte er ins Amt kommen, bräuchte auch er Unterstützung. Tagungsräume müssten barrierefrei sein, für Sitzungen würde mehr Zeit benötigt.
Müller-Zurek spricht von einem „spannenden Prozess“. Inklusion kenne per se keine Grenzen. Ob und wo es doch Schwierigkeiten geben sollte, werde die Lebenshilfe am Ende der dreijährigen Amtsperiode bewerten. „Vor 20 Jahren hätte sich das noch niemand richtig vorstellen können. Aber jetzt sind wir so weit.“
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