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Würde bewahren inmitten der Krise

Eine Architektin, eine Friseurin und ein Straßenartist erzählen von der Hoffnungslosigkeit in Athen – und ihrer Zuversicht. Begegnungen im Jahr sieben nach den ersten EU-Notkrediten

Athener Szenen: Aussicht vom Stadtberg Lykavittós, Protest gegen Sparpläne Fotos: Alkis Konstantinidis/reuters

Aus Athen Stefanie Meinecke

Der Lykavittós ist ein Stein gewordener Herold schlechter Botschaften. Diesen hübschen Berg mitten in Athen, erzählt man sich, hat die Göttin der Weisheit Athene einst auf Händen getragen. Als ihr ein Rabe schlechte Nachrichten überbrachte, soll er ihr durch die Finger gerutscht sein. Heute thront auf dem Lykavittós eine kleine weiße Kirche und die riesige blau-weiße Nationalflagge. An seinem Fuß reden die Athener noch immer über schlechte Nachrichten: Darüber, dass die Krise auch im Jahr 2017 nicht enden wird.

Seit Jahren leben die Griechen im Würgegriff von Schulden, Misswirtschaft und einer wirkungslosen Steuer- und Wirtschaftspolitik. Die Arbeitslosigkeit wächst, der Niedriglohnsektor auch, ein solides Wirtschaftswachstum ist nicht in Sicht. Und im Sommer könnte Griechenland erneut die Pleite drohen. Die Gläubiger haben in den letzten Wochen immer wieder verhandelt. Danach gab es meistens nur „Non-paper“-Informationen, inoffizielle Details über angebliche Annäherungen – bei neuen Kürzungen versteht sich.

Die Sparmaßnahmen, mit denen die linke Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras die Schulden bewältigen möchte, kostet Syriza Stimmen und Zustimmung; nach neuesten Umfragen liegt die Partei nur noch bei 19 Prozent. Viele Menschen winken beim Thema Politik inzwischen desillusioniert ab, bemüht, Haltung zu bewahren. Wie Alexandros, Eva und Valia.

Alexandros: im Elternhaus

Alexandros wirbelt drei neongelbe Keulen in die Luft. Leichtes Plastik, das hoch ins Frühlingslicht fliegt. Noch mal. Und noch mal. Alexandros legt den Kopf in den Nacken, biegt seinen schlanken Oberkörper nach hinten und dann ruckhaft nach vorne. Eine angedeutete Verbeugung. Kein Applaus. Alexandros Bühne ist die Straße. Noch ist die Ampel rot. Gleich wird sie auf Grün springen. Dem Jongleur zwischen den Autoschlangen bleiben nur noch Sekunden. Aus einem Lieferwagen streckt sich Alexandros eine Hand entgegen. Wie viel sie gibt, wird er nachher nicht sagen. Ebenso wenig wie seinen Nachnamen. Die ersten Motoren jaulen auf; der Verkehr rollt an. Alexandros zwängt sich rasch zwischen den Stoßstangen hindurch und verlässt mit zwei, drei Sprüngen die sechsspurige Vasilissis-Sofias-Avenue.

Immer mehr Menschen in Athen machen die Straße zu ihrem Arbeitsplatz: Da ist der Alte, der Papiertaschentücher am Eingang zur U-Bahn verkauft; der Fensterputzer, der im Feierabendstau sein nasses Tuch auf die Windschutzscheibe der wartenden Autos klatscht, der Akkordeonspieler, der die Wohnblocks abläuft und beschallt. In Griechenland gibt es weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe. Jeder kämpft auf seine eigene Weise ums Überleben. Ein harter Existenzkampf. Nahezu jeder Vierte ist ohne feste Arbeit. Laut der EU-Statistikbehörde Eurostat ist die Arbeitslosenquote nirgendwo in Europa höher als in Griechenland. Bei den unter 25-Jährigen ist fast jeder und jede Zweite sind ohne Anstellung.

Alexandros macht Feierabend, verstaut die Keulen in einem Rucksack und geht zu einer nahe gelegenen Parkbank, um dort seine Einnahmen – eine Handvoll Münzen – zu zählen. Früher, sagt er, ist er als Clown und Jongleur bei Partys aufgetreten. Vor allem Kindergeburtstage. Noch vor ein paar Jahren hätten die Leute dafür tief in die Tasche gegriffen. Jetzt nicht mehr. Wann sich die Lage bessern wird? „Keine Ahnung“, sagt er „ich kann im Moment nur überleben, weil ich wieder bei meinen Eltern eingezogen bin. Ich bin 35 Jahre alt und wohne bei meinen Eltern … Das ist doch traurig, wenn man das sagen muss“. Ihm geht es wie vielen Gleichaltrigen, die sich kein eigenständiges Leben mehr leisten können.

Alexandros fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er trägt Hipsterbart, dicht und dunkelbraun. Ein rot-blau kariertes Hemd kaschiert den hageren Oberkörper, die abgetragene Jeans rutscht über die ­schmale Hüfte. Er nehme nur Geld von Leuten, die ihm beim Jonglieren zuschauen, sagt Alexandros. Das zu sagen ist ihm offensichtlich wichtig. Noch streckt er nicht einfach nur die Hand hin. „Wie buchstabiert man Hoffnung?“, fragt er und lächelt. Und dann, völlig unvermittelt, greift er zu seinem Rucksack, steht auf, reicht nicht die Hand zum Abschied, sondern klopft sich damit auf die Brust. Mehrmals, ganz sachte, dort wo das Herz schlägt. Eine Geste, die man oft im Athener Alltag beobachten kann. Eine berührende Art, Danke zu sagen.

Eva: Kein zweites Kind

„Ein zweites Kind? – Unmöglich. Nicht jetzt. Auf gar keinen Fall.“ Eva schüttelt den Kopf. Heftig und immer wieder. Die junge Frau arbeitet in einem Friseursalon, macht dort Maniküre. Man kommt sich dabei sehr nahe. Sanft nimmt Eva die Finger ihrer Kundin in die Hand: „Entspann dich“. Eva feilt und knipst und poliert und erzählt über dies und das. Ihre kleine Tochter sei jetzt 21 Monate alt – „and so sweet“. Eva spricht exzellentes Englisch. Noch einmal die Frage nach einem zweiten Kind und noch einmal Evas Entsetzen als Antwort darauf. Nicht gespielt, sondern echt und ernst. Sie lässt die Feile sinken: „Ein zweites Kind wäre die Katastrophe.“

Die griechische Statistikbehörde Elstat weist für Griechenland einen deutlichen Geburtenrückgang aus: 2015 gab es 10,2 Prozent weniger Neugeborene als noch im Jahr 2001. Mit einem zweiten Kind, erklärt die 31-Jährige, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, kämen sie nicht mehr über die Runden. Sie verdiene hier im Salon 700 Euro. Bei ihrem Mann sei es nicht sehr viel mehr, sagt sie. Auch er ist bei einem Friseur angestellt, färbt dort Haare – neun Stunden, Tag für Tag. Sie beginnt wieder zu feilen und zu polieren. Die 700 Euro seien übrigens brutto, schiebt sie hinterher. An manchen Tagen kommt niemand in den Salon, erzählt Eva. Dann würden sich die vier Frauen, die hier arbeiten, eben gegenseitig die Haare richten, Nägel lackieren oder die Augenbrauen zupfen. Man richte es sich eben möglichst gut ein. Auch in schlechten Zeiten.

Ein Ende der griechischen Finanzkrise ist nicht in Sicht

Die Krise: Seit 2010 ist Griechenland auf internationale Hilfskredite angewiesen. Derzeit verhandeln die Geldgeber – die Europäische Zentralbank (EZB), der Euro-Rettungschirm ESM, die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds (IWF) – über die Auszahlung des laufenden dritten Hilfsprogramms. Bis 2018 sollen insgesamt 86 Milliarden Euro gezahlt werden.

Die Folgen: Die Arbeitslosigkeit liegt in Griechenland bei 23,1 Prozent. Die Kundeneinlagen der griechischen Privatbanken sind so niedrig wie seit fast 16 Jahren nicht mehr.

Der Ausblick: Die Gläubiger fordern neue Sparmaßnahmen in Höhe von 3,6 Milliarden Euro, etwa in Form von Steuererhöhungen oder Rentenkürzungen. Auch müssen alle Sparmaßnahmen zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Die griechische Regierung will sie stufenweise einführen. Im Juli muss Athen mehr als 7 Milliarden Euro zurückzahlen. Das Geld dafür fehlt derzeit.

Etwa die Hälfte des Familieneinkommens fließt in die Miete, sagt Eva. „Sparen können wir keinen Cent. Aber wir können rechnen, kommen deshalb mit dem Geld hin. Es geht uns gut. Ich würde sagen: Wir sind glücklich. Wir arbeiten viel und wir sind glücklich.“ Eva sagt das stolz. Und trotzig. Mehr als die Hälfte der Angestellten in der griechischen Privatwirtschaft geht im Monat mit weniger als 800 Euro nach Hause, so die Zahlen der Dachgewerkschaft für Privatwirtschaft.

Valia: Mode statt Moderne

Pangrati ist ein gutbürgerlicher Stadtteil in Athen, zwei U-Bahn-Stationen von der Akropolis. Weit genug, um die Preise nicht zu verderben. Hier hat Valia Georgiadi ihren Laden. „Alles, was du hier siehst, gibt es nur einmal. Alles Unikate“, behauptet Valia.

Der winzige Raum quillt über: Hüte aus rotem und grauem Filz, bemalte Sandalen, üppige Ketten und Armbänder aus Metall, Handtaschen, T-Shirts. Kundschaft kommt nur selten. Schon mehrmals hat Valia erlebt, wie der Markt über Nacht eingefroren ist, kein Geld mehr aus den Bankautomaten kam, die Menschen total irritiert in ihrem Alltag erstarrt sind. Heute spuckt der Bankomat wieder Geldscheine aus, aber was Valia in ihrem kleinen Laden anbietet, braucht der Mensch nicht unbedingt zum Leben.

Eigentlich ist Valia Architektin. Ein Beruf, der sie nicht mehr ernähren kann, sagt Valia und streicht sich das lange blonde Haar hinters Ohr. Die Krise habe auch die Bauwirtschaft extrem getroffen. „Hör mal genauer hin“, sagt Valia „Athen ist eine Stadt ohne Baulärm.“ Niemand investiert hier mehr. Und wirklich: kaum Kräne, wenig Bagger und Baugerüste. Dafür: Halbfertiges, Verschlepptes, Stillstand. Viele ihrer Freunde, sagt Valia, haben das Land schon vor Jahren verlassen. Viele seien einfach gegangen ohne Jobangebot. Einfach so. Und fanden im Ausland gute Jobs. „Manchmal“, denkt Valia laut nach, „habe ich Angst, dass ich einen Fehler mache, weil ich hierbleibe.“ Manchmal fühle sie einen Anflug von Depression. Die junge Frau lächelt tapfer über den Ladentisch hinweg.

Vor allem die gut Ausgebildeten gehen. Ihre Zahl bezifferte die griechische Zentralbank in einer Studie auf über 400.000 seit Beginn der Krise im Jahr 2010, als die EU den ersten Rettungsschirm aufspannte. „Griechenland hat ein riesiges Imageproblem. Wer mag uns Griechen noch?“ Mehr sagt Valia nicht auf die Frage, was sie sich von Europa erhoffe. Von der eigenen, der griechischen Regierung erwarte sie schon lange nichts mehr. Den Laden, sagt die Architektin, kann sie nur deshalb noch führen, weil sie keine Miete bezahlen muss. Die Räume gehören der Familie. Nur die neu eingeführte Immobiliensteuer belastet sie. Die Vorauszahlung schnüre ihr und vielen anderen Selbstständigen die Luft ab. Mehr als 60 Prozent ihres Einkommens verschlinge der Staat. „Absurd“, sagt Valia. „Wie die ganze Steuerpolitik.“

Wo sie wohl in fünf Jahren steht? Schulterzucken als Antwort. Valia sagt, sie könne noch nicht mal sagen, was in zwei Monaten sein wird.

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