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Kolumne „Psycho“Dank an die Durchgeknallten

Immer schön den Mund geschlossen halten. Stimmen im Kopf hört jeder. Aber als verrückt gelten nur diejenigen, die sie aussprechen.

Schon einen Schritt weiter: Tresen-Gaul in Berlin Foto: photocase/jock+scott

A ls ich vor neun Jahren nach Berlin zog, wusste ich schon nach einem Tag, dass ich hier richtig bin. Das lag an dem Mann auf der Danziger Straße. Er unterschied sich optisch nicht von den anderen Passanten, mit einer Ausnahme: Er trug nichts außer einem Bademantel und einem überlegenen Lächeln.

Keine Ahnung, wie ich geguckt habe, wahrscheinlich ziemlich dumm, aber eins stand jedenfalls fest: Ich war die Einzige. Die anderen Passanten würdigten ihn keines Blickes und gingen einfach weiter.

Ich fand das großartig. So läuft das hier also, dachte ich, jeder kann machen, was er will, und keinen interessiert’s. In Hamburg, wo ich vorher studiert hatte, durfte nur Dittsche ungestraft mit Bademantel in die Öffentlichkeit (aber mit Jogginghose drunter, nech!), in meiner kleinen Heimatstadt keiner. Es sei denn, man wollte die nächsten Wochen Gesprächsthema Nummer eins sein.

„Hui, der Axel. Ganz schön exzentrisch.“ – „Die Enderling hat letztens gesehen, wie er sich ins Haus vom Dr. Hansmann geschlichen hat.“ – „Ist das nicht dieser Therapeut?“ – „Eine Stunde war er da drin. An einem Mittwoch, wenn rechtschaffene Leute arbeiten.“ – „Ich hab’s immer schon geahnt, dass der verrückt ist.“

Normal?

Verrückt, das ist das Gegenteil von normal. Normal ist, was die anderen von einem erwarten. Aber wer weiß schon sicher, dass es nicht die anderen sind, die einen an der Klatsche haben? Gerade in der Provinz ist das nicht auszuschließen. Und in Berlin sind die Grenzen, die „Normalsein“ definieren, zwar etwas weiter gefasst, aber zwischen ihnen regiert trotzdem der Alltag.

Deshalb bin ich jedes Mal dankbar, wenn jemand diese Grenzen sprengt. Der jungen Frau, aus deren Rucksack Techno dröhnt, während sie mit ihren zappelnden Händen eine ganze Tanzfläche füllen könnte.

Dem Typ auf dem Fahrrad, der plötzlich „Du blöde Fotze!“ brüllt, und niemand weiß, wen er damit meint, er vielleicht am wenigsten. Den Druffis, den Durchgeknallten, den psychisch Kranken. (Ausgenommen Junggesellensabschiede, die zählen nicht.) Weil sie das normale Leben stören und mich im Alltagstrott zum Stolpern bringen.

Und ich bin neidisch. Mir ist es nämlich nicht egal, was der Rest der Welt von mir denkt. Ich rede nur laut mit mir selbst, wenn ich allein zu Hause bin, und das ist maximal unspannend: „Was wollte ich noch grade . . .? Ach ja, Klopapier kaufen.“

Pssssst!

Dabei produziert unser Gehirn unermüdlich Gedanken, da müsste doch mehr zu holen sein als eine Einkaufsliste. Ist auch so. Aber die Stimmen im Kopf, die uns von morgens bis abends zutexten, die erzählen, dass wir nicht gut genug sind, dass wir mal wieder zum Sport müssen, dass bestimmt der Flieger abstürzt – die lassen wir nicht raus. Immer schön den Mund geschlossen halten, damit wir nicht einfach losplappern.

Die Leute, die mit sich selbst diskutierend durch die Gegend laufen, sind da schon einen Schritt weiter.

Nach Schulschluss kommen mir übrigens täglich Kinder entgegen, die laut singen oder mit sich selbst reden. Da wundert sich keiner, im Gegenteil. Bei denen heißt das dann: Fantasie.

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taz am wochenende
Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).
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1 Kommentar

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  • Schon Kinder machen Unterschiede. Sie singen beispielsweise oft auf ihrem Heimweg und sprechen selten vor sich hin. Vielleicht liegt das daran, dass die Erwachsenen ihnen spiegeln, dass Singen ein Ausdruck von Lebensfreude ist - und Fantasie nicht unbedingt immer erwünscht.

     

    Führen Kinder trotz ihrer Prägung durch Erwachsene Selbstgespräche auf dem Weg nach Hause, scheint mir das übrigens ein untrügliches Zeichen dafür zu sein, dass es ihnen an (für sie akzeptablen) Gesprächspartnern mangelt. Nicht selten starten so "Dittsche"-Karrieren. Wer singt, wird eher Superstar – was aber auch nicht unbedingt ein leichtes Schicksal ist.