Gefährder in Deutschland: Wo beginnt gefährlich?
Ahmed A. hat noch keine Straftat begangen und wird doch schon überwacht. Denn in Deutschland gilt er als Gefährder.
Weil Ahmed A. eine Gefahr für Deutschland ist, schiebt er am 11. Juli 2016 noch einmal die Metalltür des Polizeikommissariats Ricklingen auf. Ein zweistöckiges Gebäude zwischen einem Chinarestaurant und einem Aldi-Supermarkt im Südwesten Hannovers. Es ist ein schwülwarmer Montag, später wird es ein Gewitter geben.
A. geht durch die Tür, passiert eine zweite, noch schwerere. Am Empfang legt er ein Papier mit Adresse und Passbild vor, mit dem er sich ausweist, seit er keinen Pass mehr besitzt. Die Person am Tresen notiert sein Erscheinen in einer Mappe, die Ahmed A.s Sachbearbeiter bereit gelegt hat. Dann geht A. Es ist ein kurzer Besuch, Routine. Ahmed A. muss sich dreimal in der Woche bei der Polizei melden. Montags, donnerstags, samstags.
Ahmed A., 24 Jahre alt, geboren in Afghanistan, seit 2011 in Deutschland, ist als islamistischer Gefährder eingestuft. So hat es das Landeskriminalamt Niedersachsen entschieden. Die Polizei traut ihm einen Anschlag zu. Deshalb wurde ihm der Pass entzogen und die Ausreise verboten. Deshalb muss Ahmed A. regelmäßig zur Polizei.
An diesem Montag aber kommt er zum letzten Mal in die Polizeiwache in Ricklingen. Dann taucht Ahmed A. ab. Er ist bis heute verschwunden.
Die Sorgen des Staats
Im Dezember verübte ein anderer Gefährder den schwersten islamistischen Anschlag in Deutschland. Mit einem 32 Tonnen schweren Sattelschlepper raste der Tunesier Anis Amri in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Zwölf Menschen starben. Es ist genau das Szenario, das Polizei und Geheimdienste befürchtet hatten: Die Sicherheitsbehörden hielten Anis Amri für gefährlich. Den Anschlag verhinderten sie trotzdem nicht.
Seitdem vergeht kaum eine Woche ohne Vorschläge, wie man härter gegen islamistische Gefährder vorgehen kann. 602 Namen stehen mittlerweile auf der Liste des Bundeskriminalamts. Die Regierung hat sich auf ein Gesetz geeinigt, das Fußfesseln für Gefährder möglich macht – bislang waren die für verurteilte Straftäter vorgesehen. Außerdem geplant: schnellere Ausweisungen, leichtere Abschiebehaft. In Bayern hat die Landesregierung gerade beschlossen, dass Gefährder unbefristet in Präventivhaft genommen werden können.
Dabei liegt gegen Gefährder zunächst nur eines vor: eine Prognose der Polizei. Sie haben in der Regel noch keine Straftat begangen, noch nicht einmal eine vorbereitet – auch das wäre im Bereich Terrorismus schon justiziabel. Ausschlaggebend ist die Möglichkeit, dass die Person nach Einschätzung der Polizei eine Straftat begehen könnte.
Aber kann es in einem Rechtsstaat richtig sein, jemanden allein aufgrund einer Prognose zu überwachen? Oder wäre es im Angesicht der Terrorgefahr geradezu fahrlässig, es nicht zu tun?
Aufenthaltsgenehmigung und Deutschsprachiger Islamkreis
Ahmed A. kommt am 29. November 2011 nach Deutschland. Er sei 1992 in Kabul geboren, sagt er dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die radikalislamische Miliz Hisb-i-Islami habe ihn bedroht, weil er für britische und US-Streitkräfte gedolmetscht habe. Deshalb sei er geflohen. A.s Asylantrag wird abgelehnt, weil er durch einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Weil seine Fluchtgründe „begründet“ seien, erhält Ahmed A. dennoch eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.
Ahmed A.s Werdegang und die Maßnahmen gegen ihn sind in Gerichtsurteilen festgehalten. Und sie waren Thema in einem Untersuchungsausschuss, der seit Mai 2016 im Niedersächsischen Landtag tagt.
Der Afghane zieht nach Hannover, er wirkt unauffällig. Ein sportlicher Typ, dunkle Haare, gestutzter Bart. A. kleidet sich westlich, trägt Basecap und Jeans, geht ins Fitnessstudio. Aber: Ahmed A. besucht auch den „Deutschsprachigen Islamkreis“. Der Moscheeverein im Norden Hannovers ist laut Verfassungsschutz ein Hotspot der Salafisten.
Auch Safia S. geht hier ein und aus. Sie wird im Februar 2016 im Alter von 15 Jahren einen Polizisten im Hauptbahnhof Hannover niederstechen, laut Gericht im Auftrag des „Islamischen Staats“ (IS). Der Richter verurteilt sie zu sechs Jahre Haft. Vieles spricht dafür, dass Ahmed A. sie gekannt hat.
Plante Ahmed A. einen Anschlag in Afghanistan?
Ahmed A. beteiligt sich auch an der „Lies!“-Kampagne. In weißen T-Shirts verteilen junge Salafisten Korane. Die Kampagne gilt als Rekrutierungsort für Dschihadisten, sie ist inzwischen verboten. 140 „Lies!“-Aktivisten sollen in den vergangenen Jahren nach Syrien und in den Irak ausgereist sein.
Im Juni 2015 übermittelt das Bundesamt für Verfassungsschutz dem LKA Niedersachsen einen brisanten Hinweis. „Dem BfV liegen Informationen vor, nach denen ein in Hannover wohnhafter A. plane, im Juni 2015 nach Kabul, Afghanistan, zu reisen, um dort Anschläge gegen afghanische Streitkräfte oder die der Resolute Support Mission, also die Nato-Mission dort, „zu verüben“, heißt es in dem Vermerk. A. unterhalte „Kontakte zu mehreren militanten Netzwerken“.
Woher der Verfassungsschutz seine Information hat, teilt er nicht mit. Hinweise auf konkrete Terrorpläne liefert er offenbar auch nicht. „Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat wurden nicht erkannt“, sagt der Hannoveraner Kripochef später im Untersuchungsausschuss. Doch das LKA hatte A. längst als Gefährder eingestuft.
Ahmed A. hatte in seiner Asylanhörung Fotos vorgelegt, die ihn als Dolmetscher bei Entschärfungen von Sprengfallen zeigen. Die Befürchtung ist: Er kenne sich mit Sprengstoff aus.
Sperrvermerk im „Terrorausschuss“
Die Polizei lässt Ahmed A. nun überwachen. Die Stadt Hannover untersagt ihm die Ausreise und zieht seinen Flüchtlingspass ein. Als sich A. einen neuen Reisepass im afghanischen Konsulat holt, wird auch dieser einkassiert.
Hannover beruft sich auf das Passgesetz: Ahmed A. stelle eine „Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik“ dar. Ein Passentzug ist so möglich – und bei Gefährdern längst üblich. Einen Monat später folgt eine weitere Auflage: Ahmed A. muss sich dreimal in der Woche bei der Polizei melden.
Landtag Hannover, Raum 1105. Am Mittwoch dieser Woche tagt hier der Untersuchungsausschuss zum behördlichen Vorgehen gegen Islamisten in Niedersachsen, „Terrorausschuss“ nennen ihn viele. Ein holzvertäfelter Raum mit Teppichboden, die Tische stehen im Quadrat. Heute sagt Uwe Kolmey aus, ein hagerer Mann mit runder Brille, 60 Jahre alt. Kolmey ist Chef des Landeskriminalamts Niedersachsen. Und er ist einer der Jäger von Ahmed A. Er referiert über die Entstehung der islamistischen Szene, blättert zwischendrin in Aktenordnern. Mehr als eine Stunde redet er. Zu Ahmed A.: kein einziges Wort. Ein FDP-Abgeordneter hakt nach. „Ich kann zu Ahmed A. keine Angaben machen“, sagt der LKA-Chef. Für den Fall gibt es einen Sperrvermerk des Bundesinnenministeriums.
In Kolmeys Amt laufen alle Informationen über Gefährder in Niedersachsen zusammen. Gerade erst verhaftete die Polizei zwei von ihnen wegen Terrorverdachts in Göttingen. Die Zahl der Gefährder steige seit Jahren, schreibt Kolmey auf Anfrage. Noch 2012 war sie in Niedersachsen einstellig, heute sind es 45. Man habe nun den Staatsschutz aufgestockt.
Vom Fußball zum Islamismus
Der Begriff Gefährder tauchte zuerst in der Fußballszene auf. Fans, von denen die Polizei annahm, sie könnten Ärger machen, wurden manchmal vor Spielen von Beamten besucht, die rieten, besser nicht ins Stadion zu gehen. Gefährderansprache nennt man das.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September übernahm der Staatsschutz den Begriff. 2004 einigten sich die Chefs des BKA und der Landeskriminalämter auf eine Definition. „Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO) begehen wird.“
Bestimmte Tatsachen? Auslegungssache. Ein Gesetz, das festlegt, was genau ein Gefährder ist, gibt es bis heute nicht.
Von den 602 Gefährdern auf der Liste des BKA sind etwa 30 Frauen. Viele der Personen wissen selbst nichts von dem Status. Etwa die Hälfte der Gefährder ist gerade im Ausland, meist in Syrien und im Irak. Hundert sitzen in hierzulande in Haft. Das heißt: etwa 200 leben frei in Deutschland.
Fragen
Und drei sind verschwunden. Einer von ihnen: Ahmed A. Wo ist er? Ist er noch in Deutschland? Droht er womöglich hier einen Anschlag zu begehen?
Hat er es ohne Pass ins Ausland geschafft? Ist er zu seiner Familie nach Afghanistan aufgebrochen, wie er es vor Gericht als Wunsch äußerte?
Mit „Hochdruck“ werde nach dem Untergetauchten gefahndet, erklärt Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius.
Alle Spuren von ihm scheinen verwischt zu sein. In seinem früheren Umfeld ist es still. Ahmed A.s Partnerin, Nur G., die noch in Hannover lebt, redet nicht mit der Presse.
Die Salafisten wissen von nichts
Es könne sein, dass er ihn mal gesprochen habe, sagt Dennis Rathkamp, einer der Wortführer der Salafistenszene Hannovers. Mehr könne er nicht sagen. Auch Rathkamp gehörte früher zu den Koranverteilern in der Stadt.
In der Moschee des „Deutschsprachigen Islamkreises“ gibt man sich genauso ahnungslos. An einem Freitag im Februar steht zum Freitagsgebet die Tür offen. Männer strömen in den kleinen Klinkerbau. Alle sagen, dass sie Ahmed A. nicht kennen.
Ein Mann, der über seinem weißen Kaftan eine dunkle, warme Jacke trägt, schiebt einen Müllcontainer in den Hof. „Ich bin schon seit mehr als 20 Jahren hier.“ Aber Ahmed A., der Name sage ihm nichts.
Noch im Mai 2016 hatten Ahmed A. und Nur G. nach islamischen Ritus geheiratet, im Dunya Event Center in Hannover. Laut Verfassungsschutz kamen 120 Gäste. Nun aber scheint es, als sei Ahmed A. nie in Hannover gewesen.
Strategie: Opferlamm
Die Strategie von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“ ist es, mithilfe von Angst ein politisches Klima hervorzurufen, das Muslime diskriminiert.
Muslime sollen das Gefühl bekommen, im Land der Ungläubigen könnten sie nie gleichberechtigte Mitglieder sein – letztlich müssten sie sich also für eine der beiden Seiten entscheiden. Wenn die Polizei auf der Suche nach Gefährdern nun Unschuldige beobachten sollte, könnte das dieser Strategie in die Hände spielen.
Andererseits ist das Risiko, dass in Deutschland ein nächster, vielleicht noch schwererer islamistischer Terroranschlag geschieht, real. Seit 2012 sind mehr als 910 Menschen aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist, etwa ein Drittel von ihnen ist wieder hier.
Der IS hat zu Anschlägen im Westen aufgerufen, auch Deutschland wurde explizit genannt. Die Polizei hat in den vergangenen Monaten mehrfach Sprengstoff oder Material dafür bei Razzien gefunden. Und die Terroranschläge des vergangenen Jahres zeigen: Auch ein Lkw oder eine Axt können eine Waffe sein.
Die Analytikerin
Aber lässt sich voraussagen, wer so etwas tun würde? Valerie Profes’ Job ist es, dabei zu helfen, genau das herauszufinden.
Die 42-jährige Juristin leitet beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden ein Team, das ein Prognosewerkzeug erfunden hat. Fallanalytiker, Staatsschützer und forensische Psychologen der Universität Konstanz haben es gemeinsam entwickelt, es heißt Radar-iTE. Ein Fragebogen-Tool zur Voraussage von Gefährlichkeit – Mithilfe von Exceltabellen. Am Ende steht für jeden Gefährder eine Risikoeinstufung: gelb, orange oder rot.
Bundeskriminalamt Wiesbaden, Standort Äppelallee, Referat Operative Fallanalyse und Risikoanalyse. Vor Valerie Profes auf dem Tisch liegt eine beige Umlaufmappe, darin stecken Ausdrucke. Einer zeigt in einer Kurve, wie die Anzahl der Gefährder seit Jahren steigt. „Mit den begrenzten polizeilichen Ressourcen war das irgendwann nicht mehr machbar“, sagt Profes. „Radar ist dafür gemacht, aus diesem großen Personenkreis die herauszufiltern, von denen ein besonderes Risiko für eine Gewalttat ausgeht. Und auf die kann sich die Polizei dann besonders konzentrieren.“
Profes strahlt etwas Praktisches aus: Pferdeschwanz, flache Schuhe, T-Shirt unterm Jacket. „Der Umgang mit Gefährdern ist nicht einfach, keine Frage“, sagt sie und verschränkt die Arme. „Aber ich glaube, die Bevölkerung würde uns schwere Vorwürfe machen, wenn wir nicht präventiv tätig werden würden und versuchen, einen Anschlag zu verhindern.“
Dystopie: Eine Welt wie in „Minority Report“
In den USA bezeichnet man das, was Valerie Profes macht, als „Predictive Policing“, also „vorausssagende Polizeiarbeit“: Falldaten zu analysieren, um zu berechnen, wie wahrscheinlich künftige Straftaten sind. Profes ist es wichtig, zu betonen, dass bei Radar keine Software am Werk sei. In den USA verarbeiten schon oft selbstlernende Algorithmen die großen Datenmengen. Ein US-Soziologe behauptet, er könnte so ziemlich genau vorhersagen, ob ein Baby einmal ein Mörder werde.
Das Thema ist Stoff für Dystopien wie den Steven-Spielberg-Film „Minority Report“, in dem es jahrelang keinen Mord mehr in Washington gegeben hat, weil die Polizei die Mörder vor der Tat fasst und dann in einem Zustand künstlicher Bewusstlosigkeit verwahrt.
Aber genauso birgt der Ansatz Hoffnungen. Etwa wenn Polizisten öfter in Gebieten Streife fahren, in denen laut statistischer Vorhersage wahrscheinlich Einbrüche geschehen.
Gefahrenabwehr ist neben Strafverfolgung die Hauptaufgabe der Polizei. Aber wenn Überwachungstechnik und Prognosewerkzeuge immer besser werden, verändert das die Möglichkeiten. Besonders wenn gesellschaftliche Angst hinzukommt.
Zurück nach Afghanistan?
September 2015, Verwaltungsgericht Hannover. Ahmed A. klagt gegen die Stadt. Er will seinen Pass zurück und ausreisen. A. trägt Basecap und Lederjacke. Einen Anwalt hat er nicht dabei. Er verteidigt sich selbst.
Er habe mitnichten vor, einen Terroranschlag in Afghanistan zu begehen, sagt Ahmed A. Er wolle ausreisen, um seine Mutter zu besuchen, die am Herzen operiert wurde.
Der Richter ist nicht überzeugt. Er glaubt den Angaben des Verfassungsschutzes, die die Stadt vorlegt. Im Internet halte er unter einem Alias-Namen Kontakt zu Verwandten in extremistischen Gruppen. Der Richter verweist auch auf A.s salafistische Kontakte in Hannover. Der Verdacht, dass A. einen Anschlag plane, sei begründet.
Es ist ein Balanceakt. Der Richter sagt in der Verhandlung selbst, die Angaben des Verfassungsschutzes müssten „vorsichtig“ behandelt werden. Schließlich lege der Dienst seine Quellen nicht offen. Das Urteil aber werde, so der Richter, durch „zahlreiche weitere Anknüpfungstatsachen gestützt“. Das ist das eine. Das andere ist aber wohl: Niemand will derjenige sein, der Sicherheitsmaßnahmen ablehnt – und dann gibt es doch einen Anschlag.
Das Grundrecht der Betroffenen
Es ist einer der Gründe, warum es Kritiker so schwer haben. Selbst die Grünen fordern aktuell mehr Härte gegen Gefährder und deren „Festsetzung“.
Der Kriminologe Charles von Denkowski sieht das anders. „Der Gefährderbegriff ist verfassungswidrig“, sagt er. Von Denkowski, 44 Jahre, Glatze und Dreitagebart, sitzt in der Küche seiner Berliner Altbauwohnung. Auf dem Tisch stehen Granatapfelkerne und getrocknete Algen. „Als Gefährder gelistet zu werden und das noch geheim, greift massiv in die Grundrechte des Betroffenen ein“, sagt von Denkowski. „Und das ohne gesetzliche Grundlage.“
Von Denkowski war 14 Jahre Polizist, bevor er in die Wissenschaft wechselte. Drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September fing der Deutschamerikaner 2001 beim Hamburger Staatsschutz an. Ausgerechnet in der Hansestadt, wo der Attentäter Mohammed Atta gelebt hatte. Von Denkowski war für Rechtsextreme zuständig, die hektische Betriebsamkeit in Sachen islamistischer Terror aber bekam er mit.
Damals sprach man noch von Schläfern, die weitgehend unauffällig in Deutschland leben, bis sie von außen mit einem Terrorauftrag aufgeweckt werden. Gefährder klingt aktiver. Sie handeln unter Umständen auch von sich aus.
Zwischen Polizei und Verfassungsschutz
Damals, sagt von Denkowski, hätte der Staatsschutz begonnen, Islamismus-Abteilungen aufzubauen. Die Polizei sollte stärker im Vorfeld von Taten aktiv werden. Das war aus seiner Sicht der entscheidende Einschnitt. „Natürlich ist es richtig, mögliche Terroristen früh zu erkennen.“ Aber oft seien die Ermittlungen nicht vom Polizeirecht gedeckt. „Extremisten zu beobachten ist Aufgabe des Verfassungsschutzes.“
Bei der polizeilichen Gefahrenabwehr gelte, dass die Gefahr konkret sein muss – zeitlich und örtlich, sagt von Denkowski. Bei Gefährdern braucht es das nicht. „Für den Staatsschutz ist das eine Art Joker.“
Von Denkowski fordert, dass ein Gesetz die Einstufung von Gefährdern regelt und ein Richter darüber entscheiden muss – die Grundlage dafür soll ein Gutachter prüfen.
Im Fall Ahmed A. wiederholt der Verfassungsschutz im Dezember 2015 seine Warnung: A. wolle nach eigener Aussage als Märtyrer sterben. Die polizeilichen Beobachtungen aber ergeben offenbar wenig. Ahmed A. scheint sich nach dem Urteil seinem Schicksal zu fügen. Er erfüllt seine Meldeauflagen. Im Frühjahr 2016 verringert die Polizei ihre Überwachung.
Dauer-Beschattung
Aber Ahmed A. bleibt als Gefährder eingestuft. Als im März 2016 auf dem Brüsseler Flughafen Bomben explodieren, prüfen die Behörden, wo sich Ahmed A. aufhält. Als dann im April US-Präsident Barack Obama Hannover besucht, wird Ahmed A. während des gesamten Besuchs beschattet – 48 Stunden lang.
Im Juni 2016 ist es Hannovers Polizeipräsident, der im Untersuchungsausschuss zu Ahmed A. befragt wird. A. habe sich bei Gefährderansprachen „sehr kooperativ“ verhalten, sagt er. Drei Wochen später ist der 24-Jährige verschwunden.
Hätte das verhindert werden können? Von wem? Und wie?
Viele der momentan diskutierten Verschärfungen hätten im Fall Ahmed A. wenig genutzt. Eine Abschiebung war nicht möglich – dagegen steht eine UN-Resolution, die verpflichtet, mutmaßliche Terroristen an der Ausreise zu hindern. Eine Fußfessel lässt sich abtrennen. Verhindert hätte Ahmed A.s Flucht nur die unbegrenzte Präventivhaft, wie sie Bayern plant. Aber die geht selbst vielen bei der Polizei zu weit.
Anis Amri: Risikostufe rot
Bei Ahmed A. hat sich die Polizei verschätzt – genau wie im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri. Hier hatten die Behörden zunächst Glück.
Sie hatten einen V-Mann in der Szene, dem Amri sich anvertraute: Er wolle Waffen beschaffen und einen Anschlag begehen. Amris Handy wurde angezapft und er observiert. Aber die Polizei bemerkte nur kleine Drogengeschäfte und eine Schlägerei. Keine konkrete Gefahr, so der Rückschluss.
Im September 2016 wird die Überwachung eingestellt. Erst bei seinem Anschlag auf dem Breitscheidplatz taucht er wieder auf.
Beim BKA in Wiesbaden darf Valerie Profes über Amri nicht sprechen. Aus Sicherheitskreisen heißt es aber, dass ihr Team den Fall nach dem Anschlag mit dem Prognose-Instrument Radar überprüft habe. Sie gaben die vor dem Anschlag vorhandenen Informationen ein. Das Ergebnis: Risikostufe rot. Künftig, so der Plan der Behörden, soll sich die Polizei auf diese Gefährder konzentrieren.
So funktioniert „Radar“
Radar-iTE ist eine Abkürzung für „Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus“. Das hört sich komplizierter an, als es ist: ein langer Fragebogen in einer Excel-Tabelle, angelehnt an die Risikoeinschätzung bei rückfallgefährdeten Sexualstraftätern. Für jeden Gefährder soll so ermittelt werden, wie hoch die Gefahr ist, dass er eine Gewalttat begeht.
Drei Bereiche würden abgefragt, erklärt Valerie Profes im Besprechungsraum in Wiesbaden. „Als Erstes der Werdegang, also biografische Daten. Als Zweites seine aktuelle Situation. Hat er seinen Arbeitsplatz verloren oder gerade eine Trennung hinter sich, solche Dinge. Und als Drittes geht es um sein Umfeld: Wie eng ist er in die radikale Szene eingebunden? Wie ist der Kontakt zur Familie?“ Profes spricht schnell, dann hält sie plötzlich inne. „Ich muss kurz überlegen, was ich sagen kann.“ Zu viele Details darf sie nicht verraten.
Trifft ein Merkmal zu, macht der Beamte ein Kreuz. Für jedes gibt es Punkte. Je nach Gesamtpunktzahl wird der Gefährder eingeordnet: Gelb steht für ein moderates, Rot für ein hohes Risiko, Orange liegt dazwischen. Wird ein hohes Risiko festgestellt, nimmt sich eine Runde den Einzelfall vor. Radar-iTE soll im Sommer bundesweit einsetzbar sein, in Niedersachsen wird es gerade eingeführt.
Das mag eine sinnvolle Maßnahme sein, wie manch andere, wenn man sie als Mosaikstein betrachtet. Schaut man auf das ganze Bild, zeigt sich aber auch: Seit den Terroranschlägen von 9/11 weiten sich die Befugnisse der Polizei im Vorfeld von Straftaten immer stärker aus. So manches Mal in einer rechtlichen Grauzone. So manches Mal auch bei Personen, die eben noch als unschuldig galten. Das kann im Einzelfall vielleicht einen Anschlag verhindern. Das kann aber auch den Rechtsstaat aushöhlen, den man doch eigentlich verteidigen will.
Dürre Beweise
Im April 2016 muss auch Ahmed A.s Freundin, die Deutschtürkin Nur G., ihren Pass und ihren Personalausweis abgeben. Die Polizei hatte darauf gedrängt. Ihre Begründung: Nur G. könnte mit Ahmed A. ausreisen.
Auch die 23-Jährige zieht dagegen vor Gericht. Bei der Verhandlung im Juli 2016 sitzt nur ihr Anwalt im Saal. Der gibt an, Nur G. sei gar nicht mehr mit Ahmed A. zusammen. Ein Verfassungsschützer widerspricht, verweist auf die Hochzeit der beiden im Mai. Zudem habe Nur G. eingewilligt, sich von Ahmed A. im Umgang mit Waffen schulen zu lassen. Der Richter belässt es darauf beim Ausweisentzug für Nur G., obwohl auch er die vorgelegten Beweise des Verfassungsschutzes als „dürr“ bezeichnet.
Für Ahmed A. dürfte jetzt klar sein, dass er den Status des Gefährders so schnell nicht los wird. Zwei Tage später wird daraus Gewissheit: Die Stadt Hannover verlängert sein Ausreiseverbot um ein weiteres Jahr.
Einmal noch meldet er sich darauf bei der Polizei. Am 11. Juli 2016. Dann ist er weg. Was er vorhat, weiß nur er.
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