: „Die Pubertät wird für junge Flüchtlinge zu einer gefährlichen Lebensphase“
TraumaJugendliche Flüchtlinge sind besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt – vor allem, wenn sie ohne Eltern oder Angehörige gekommen sind, sagt der Psychotherapeut Basel Allozy
44, behandelt und betreut als Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut junge Flüchtlinge. In dem von ihm gegründeten Verein Alkawakibi unterstützt er zudem geflüchtete MedizinerInnen bei ihrer beruflichen Eingliederung.
Interview Uta Schleiermacher
taz: Herr Allozy, wie geht es Jugendlichen, die ohne Eltern oder andere Angehörige flüchten, aus psychologischer Sicht?
Basel Allozy: Viele der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die mir vorgestellt werden, haben komplexe Probleme. Das ist nicht immer nur die typische posttraumatische Belastungsstörung. Viele haben Anpassungsstörungen: Das können Depressionen sein, Angststörungen, Albträume oder aggressives Verhalten. Manche sind die ganze Zeit über angespannt oder haben Konzentrationsprobleme.
Was sind die Ursachen?
Diese Jugendlichen sind sehr beschäftigt mit ihrer Situation: wie es für sie und ihre Angehörigen weitergeht, wie ihr Aufenthalt geregelt wird. Sie müssen sich um viele bürokratische Dinge kümmern, sich ständig fragen, was der nächste Schritt ist und was mit ihnen passieren wird. Das ist für die meisten eine große Belastung, und wenn sie dann deshalb Konzentrationsprobleme haben, sind sie von sich enttäuscht, weil sie nicht schnell genug lernen können.
Ein unsicherer Aufenthalt verstärkt also die Probleme?
Oft müssen sie lange auf Entscheidungen warten, manchmal Monate. Ich habe unbegleitete minderjährige Flüchtlinge getroffen, die seit einem Jahr hier sind, aber noch keinen Vormund haben. Dann können sie auch noch keinen Asylantrag stellen, geschweige denn einen Antrag auf Familiennachzug. Und alle machen sich große Sorgen um ihre Familien. Sie warten darauf, dass sie ihre Eltern nachholen können, und sie verstehen nicht, warum das nicht vorankommt.
Wie reagieren sie auf diese Situation?
Manche ziehen zurück und werden depressiv, sitzen nur zu Hause, und die Betreuer haben Schwierigkeiten, sie aus dem Bett und in die Schule zu bekommen. Andere orientieren sich nach außen: Dann besteht die Gefahr, dass sie Drogen und Alkohol probieren, und ohne dass ihnen jemand Grenzen setzt, die Freiheit hier missbrauchen. Manche entwickeln Wut und Hass auf die Welt oder auf sich selbst. Diese Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren sind teils noch sehr kindlich und ohne Eltern in einer so freien, offenen Gesellschaft wie dieser verloren.
Welche Reaktionsweise kommt öfter vor?
Meine Einschätzung ist, dass mehr Jugendliche mit Depressionen als mit Aggressionen reagieren. Aber die bemerkt man weniger, weil sie nach außen keine Probleme verursachen.
Woran erkennt man, ob jemand psychologische Hilfe braucht?
Leicht ist es, wenn jemand ganz typische Erscheinungen hat, etwa Nachhallreaktionen bei Traumata. Bei Depressionen ist es schwerer. Wer von Schlafstörungen und Albträumen geplagt wird, dem merkt man tagsüber nichts an, außer, dass er müde und unkonzentriert ist. Solche Fälle werden oft nicht erkannt. Deshalb ist es wichtig, Lehrkräfte und BetreuerInnen zu schulen, wie sie mit Traumatisierungen und Anpassungsstörungen umgehen.
Gibt es bereits solche Angebote?
Es gibt Beratungen und Kurse, wo sie lernen zu erkennen, wann eventuell eine Traumafolgestörung vorliegt und wo es Hilfen gibt – für die Jugendlichen, aber auch für die Betreuer und Lehrer selbst. Schwierige Fälle sollten aber Fachleuten vorgestellt werden.
Werden Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen unterschiedlich behandelt?
Für die Therapie ist es wichtig zu wissen, was der Auslöser ist. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen muss ich vor allem Sicherheit anbieten, das ist die Voraussetzung, damit wir das Trauma bearbeiten können. Wer verunsichert ist, der kann schwere Traumata noch nicht verarbeiten, denn die Verarbeitung ist auch eine Belastung. Und die Pubertät ist generell eine verunsichernde Lebensphase.
Ein schlechtes Alter für eine Flucht?
Ob es ein Alter gibt, in dem eine Flucht weniger schädlich ist, kann ich nicht sagen. Aber die Pubertät ist eine sehr sensible Phase – auch ohne Flucht. Sie ist wichtig für die Ausbildung der Identität eines Jugendlichen, eine Ablösungsphase, in der Jugendliche sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen und gegen die Eltern rebellieren. Da gibt es sowieso schon viele Konflikte, auch intrapsychisch, und die mischen sich hier mit der Anpassungsproblematik und werden durch die andere, neue Kultur verstärkt.
Was muss man bei geflüchteten Jugendlichen besonders beachten?
Die Jugendlichen brauchen Halt, Orientierung. Das bekommen sie normalerweise durch die Eltern. Für junge Flüchtlinge ohne Eltern wird die Pubertät zu einer gefährlichen Lebensphase. Wenn man sie im Stich lässt, sind sie auf sich allein zurückgeworfen, und man weiß gar nicht, welche Gefühle sie entwickeln.
Was sind Ihre Erfahrungswerte?
Manche entwickeln Hassgefühle, nachdem sie am Anfang alles hier idealisiert haben. Wer eine diffuse Persönlichkeit hat, sich selbst nicht richtig versteht, kann sich schwer integrieren. Wenn man sie von Anfang an gut betreuen und gut behandeln würde, wäre das leicht für sie.
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