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„Gute Betreuung ist kaum möglich“

Strafvollzug Thomas Galli, früher Leiter zweier JVAs, über den Suizid von Jaber al-Bakr, die Mangelwirtschaft in Gefängnissen und darüber, dass nicht jeder Verbrecher hinter Gitter gehört

Diana K. Weilandt
Thomas Galli

hat 15 Jahre im Strafvollzug gearbeitet – unter anderem als Leiter zweier sächsischer JVAs. Darüber hat er zwei Bücher geschrieben.

Vor drei Monaten hat sich der syrische Terrorverdächtige Jaber al-Bakr in der Leipziger Justizvollzugsanstalt erhängt. Wie es dazu kommen konnte, hat eine unabhängige Kommission untersucht und am Dienstag ihren Abschlussbericht vorgelegt.

taz: Herr Galli, wie haben Sie als ehemaliger JVA-Leiter den Fall al-Bakr wahrgenommen?

Thomas Galli: Anfangs ist oft die Frage aufgetaucht, ob der schlechte Umgang mit dem Fall typisch sächsisch ist – was auch immer das sein soll. Ich denke, es hätte wirklich überall passieren können. Die Selbstmordrate von Gefangenen ist sehr hoch, gerade in Untersuchungshaft: da ist sie 30 Mal höher als in der Durchschnittsbevölkerung. In der Außenwahrnehmung ist der Fall al-Bakr natürlich ein besonderer, aber für Insider fast schon Normalität.

Wie geht man überhaupt mit selbstmordgefährdeten Menschen in Haft um?

Das ist abhängig vom jeweiligen Bundesland. Ich war lange im bayerischen Vollzug tätig, in der JVA Straubing. Dort gibt es „Gummizellen“. Da ist nichts drin, woran man sich irgendwie verletzen kann. Der Häftling kriegt nur eine Papierunterhose und wird durchgehend kameraüberwacht. Außerdem bekommt er so ein Gummi­teil auf den Kopf gestülpt, damit er seinen Kopf nicht gegen die Wand schlagen kann. Aber das ist eine unmenschliche Art der Unterbringung, das ist Psychofolter. In Sachsen hingegen gibt es rechtlich nicht einmal die Möglichkeit zur Videoüberwachung.

Hat denn die Justizvollzugsanstalt Leipzig beim Fall al-Bakr Ihrer Meinung nach Fehler gemacht?

Klar sagt man da als Außenstehender: Das ist ein potenzieller Selbstmordattentäter, da könnte Selbstmordgefahr bestehen. Aber sie haben ihn auch daraufhin untersucht. Er wurde bereits halbstündig überwacht. Die einzige Möglichkeit wäre die 24-Stunden-Bewachung gewesen, aber wie lang? Das kann man eine Woche machen, zwei Wochen. Aber sein Verfahren hätte ja Monate gedauert.

Sein Fall hat das erste Mal öffentlich die Frage aufgeworfen: Wie soll man mit islamistischen Terrorverdächtigen oder potenziellen Selbstmordattentätern in Haft umgehen?

Ich fände es wichtig, dass man zumindest in jedem Bundesland Anstalten mit durchgehend besetztem Dolmetscherdienst hat, sodass innerhalb von ein bis drei Stunden immer ein Dolmetscher zur Verfügung steht. Das war ja bei al-Bakr anscheinend nicht gegeben.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen, Sachsens Justiz leide an Personal- und Platzmangel?

Das ist überall so. In Bayern habe ich das genauso beobachtet. Und auch Kollegen aus anderen Bundesländern haben in den 15 Jahren, die ich im Justizvollzug tätig war, von Ähnlichem berichtet. Nachts und abends ist oft nur ein Bediensteter für ein paar Hundert Gefangene zuständig. Da ist gute Betreuung kaum möglich.

Sie haben das Konzept von Gefängnissen schon oft kritisiert.

Gefängnisse wurden geschaffen, um eine möglichst große Menge an Menschen möglichst kostengünstig zu verwalten. Warum sonst sollte man viele Straftäter auf engstem Raum zusammen einsperren? Natürlich hat sich da viel getan in den letzten Jahrzehnten, aber das Wesen dieser Einrichtungen bleibt gleich. An Einzelfällen wie al-Bakr merkt man, wozu dieses strukturelle Problem führen kann. Ich bin ja auch der Meinung, dass Terroristen und andere Schwerstkriminelle in Gefängnisse gehören. Aber eben längst nicht alle Kriminellen.

Im Januar gab es wieder einen Suizid in der JVA Leipzig.

Von jemandem wie ihm geht für die Allgemeinheit keine Gefahr für Leib und Leben aus. Der Mann saß wegen Unterschlagungs- und Drogendelikten in U-Haft. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, sein Verfahren auch außerhalb einer Zelle zu sichern – mit Fußfesseln etwa. Die meisten Suizide, die ich miterlebt habe, waren solche: junge Männer aus dem Suchtmilieu, Leute mit psychischen Problemen – keine Massenmörder. Und zumindest diese Leute gehören einfach nicht in Haft.

interviewSarah Emminghaus

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