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Neuer Roman des Briten Will SelfTräume von Bomben über Hiroshima

Der Akt des Lesens als Rausch: Will Selfs Drogengesättigter neuer Roman, „Shark“, ist ein Gewaltmarsch durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Hat Einiges erlebt: Will Self Foto: Michael Wildsmith

Es gibt Romane, da ist es sinnvoll, einen Stammbaum anzulegen, um im Wirrwarr der Charaktere den Überblick zu behalten. Es gibt Romane, deren Plot so dicht ist, deren Story so stringent erzählt wird, dass sie die LeserInnen in andere Welten entführen. Und es gibt Romane, da sollte man bei der Lektüre auf jede Art von Halt und Klarheit pfeifen und sich einfach mitziehen lassen in den Strudel des wohlkomponierten Wahnsinns. „Shark“ ist so ein Roman. Es ist Will Selfs elfter und nach dem 2012 für den Man Booker Prize nominierten „Regenschirm“ der zweite einer Trilogie.

Der Klappentext informiert darüber, dass der Psychiater Zack Busner an einem Frühlingstag Anfang der siebziger Jahre mit den Bewohnern seiner Londoner Psycho-Kommune ein LSD-Experiment durchführt. Und dass nicht alle freiwillig daran teilnehmen. Dass zwei vom Zweiten Weltkrieg traumatisierte Männer in Busners Einrichtung aufeinandertreffen: Der eine saß in dem Flugzeug, das die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat. Der andere hat den Untergang des Schiffs im „haiverseuchten“ Pazifik überlebt, mit dem die Bombe angeliefert wurde.

Das sind Informationen, die im Roman erst nach mehr als hundert Seiten dezent angedeutet werden. Der andere Hinweis, dass sich die Gedankengänge der Teilnehmer am LSD-Experiment verschränken und die „Grenzen zwischen Erinnerung und Träumen, Wahn und Wirklichkeit zerfließen“, offenbart sich jedoch schon auf Seite eins.

Ein Höllentrip im Inneren

Der 55-jährige Self, der seine eigene Drogenkarriere vor einigen Jahren erfolgreich beendet hat, thematisiert in den meisten seiner Werke Drogen und psychische Krankheiten. In „Shark“ illustriert er verschobene Bewusstseinszustände auch, indem er fragmentarisch Bonmots, universelle Wahrheiten, reale historische Begebenheiten und Verweise auf Popkultur und Klassiker der modernen und fantastischen Weltliteratur von James Joyce über T. S. Eliot bis zu H. G. Wells gekonnt aneinanderfügt. Wer sie erkennt, kann sich daran erfreuen. Wer sie nicht erkennt, spürt keinen Verlust.

Das Buch

Will Self: "Shark". Aus dem Englischen von Gregor Hens. Hoffmann&Campe Verlag Hamburg, 2016, 510 S., 34 Euro

Die Bewusstseinsströme der Figuren treffen aufeinander, fließen kurze Zeit nebeneinander her, trennen sich, mäandern in unterschiedliche Richtungen, um dann wieder zueinanderzufinden. Die Perspektiven wechseln in rascher Folge, ebenso die Sprecher, die das Geschehen und ihre Gedanken dazu geistesblitzartig auch selbst kommentieren. Der Akt des Lesens gerät selbst zu einem Rausch. Zu dem auch die treffsichere Übersetzung von Gregor Hens beiträgt. Mit Liebe zum Detail hat er ein Vokabular gefunden, das sich nicht an einen vermeintlichen Bescheidwisser-Drogen­slang anbiedert. Das irrwitzigen Humor durchscheinen lässt und Selfs viele politisch unkorrekte Phrasen genüsslich transportiert.

Selfs Schreibweise, die menschlichen Makel seiner Protagonisten zu skizzieren und mit der Nennung physiognomischer Details zu verbinden, ist stets empathisch. Das trägt dazu bei, dass man sich bereitwillig auf diesen Höllentrip begibt.

Mental verirrt und ohne Ziel

Allmählich entsteht aus den Gedankenbahnen ein Netz, das erkennen lässt, wie eng die Protagonisten miteinander verwoben sind. Bis dahin bietet die Topografie Londons Halt. Der Londoner Self ist ein passionierter Stadtwanderer, der, wie schon Charles Dickens, Schlafstörungen mit Streifzügen durch die nächtliche Stadt bekämpft. In seinem letzten Roman „Leberknödel“ (2015) entdeckten die Leser*innen gemeinsam mit der lebensmüden Protagonistin die Schönheit Zürichs.

In „Shark“ bewegt sich keine Figur von A nach B, ohne dass zumindest der Stadtteil, Willesden oder Finsbury Park, eine Tube-Station oder am besten ganze zusammenhängende Straßenzüge angegeben werden. Wenn eine Person mental verirrt und ohne Ziel ist, ist es gut, sich wenigstens mit detaillierten Ortsangaben eine Verankerung zu erschleichen.

„Shark“ ist ein Gewaltmarsch. Durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Durch einen üppigen Drogensumpf. Durch die verwinkelten Abgründe der menschlichen Psyche. Alles zusammengekittet mit allzu Menschlichem: Körperfunktionen, Gerüchen, Flüssigkeiten. Und wie bei jedem Gewaltmarsch will man manches Mal erschöpft und verzweifelt aufgeben. Schafft man es aber bis zum Ende durchzuhalten, ist man verdammt froh, dabei gewesen zu sein.

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1 Kommentar

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  • Auch in der Taz wird die irrige Auffassung vertreten, dass Drogen, Tabak und Alkohol drei verschiedene Dinge seien.

    Was ist bitteschön eine „Drogenkarriere“ ( Printausgabe)? Hiermit ist nicht etwa gemeint, dass man gelernt hat die gefährlichste „Droge“ Alkohol zu konsumieren, sondern schlimm, schlimm LSD, dass nun gerade nicht z.B. abhängig macht (Nutt D. et. Al. 2007). Oh wie gut, dass der Autor W. Self rechtzeitig seine „Drogenkarriere“ beendet hat (trinkt er denn kein beer mehr?). „Psychogruppen“: ganz schlimme Leute, die wohl immer übergriffig andere unter Drogen zu setzen. Mit diesem Begriff werden alle pauschal zu diffamiert, die trotz der Inquisition es wagen in Europa zu Selbsterfahrungs- oder spirituellen Zwecken Substanzen zu konsumieren. Die einzigen systematischen „Drogenexperimente“ gegen den Willen der Teilnehmer*innen gehen auf Konto der Militärforschung. „Höllentrips“: wenn sich ein unvorbereiteter Mensch sich plötzlich im Rahmen einer transpersonalen Erfahrung auf dem Schlachtfeld des 2. Weltkrieges wiederfindet, dann ist das „höllisch“. Für ernsthafte „Psychonauten“ sind solche Erfahrungen wertvoll und müssen sorgsam integriert werden. „Drogensumpf“: Sind damit die vielen Kippen gemeint, die man tgl. auf den Strassen findet, oder die leeren Bierdosen? Sümpfe muss man trocken legen, kein Zweifel: So machen (soldatische) Männer und Frauen das. In welchem Sumpf kann man denn versinken, wenn man LSD oder Pilze einnimmt, die beide gerade wieder für die Depressionsbehandlung entdeckt werden? Der Artikel-obwohl eigentlich schön geschrieben ärgert -mich und ich bin wohl in den kritisierten Bescheidwisser-Drogen¬slang verfallen. Die Autorin und die Taz sollte generell ihr Verhältnis zum irrationalen Umgang mit „Drogen“ überdenken und eine sorgfältigere Sprache wählen. Wenn die TAZ nun schon Wein verkauft – wann verkauft sie denn Drogen, die nicht abhängig machen?

    Fragen eines lesenden Arbeiters aus der Psychiatrie.

    Theobald Tiger