Hausbesuch An ihrem Leben zeigt sich, wie sehr die Nazigeschichte die Nachkriegsgeneration prägt: Schuld nein, Verantwortung ja
von Waltraud Schwab (Text) und Margrit Müller (Fotos)
Zu Besuch bei Christiane Walesch-Schneller im Blauen Haus in Breisach am Rhein. Egal aus welcher Richtung, immer ist von Weitem zuerst das Münster zu sehen. Das Städtchen mit 10.000 Einwohnern liegt an der französischen Grenze und gehörte im Laufe der Geschichte selbst öfter zu Frankreich.
Draußen: In der Rheintorstraße, vormals hieß sie „Judengasse“, wurde aber von den Nazis umbenannt, steht das blau gestrichene Haus mit den grauen Fensterläden. Eine Wand aus dem 14. Jahrhundert war früher Teil der Stadtmauer.
Drinnen: Schule, Wirtshaus, vor allem Gemeindehaus der jüdischen Breisacher war das Haus einst. Der Kantor wohnte da. An der weiß gestrichenen Wand im langen Flur – „Hausgang“ sagen die Einheimischen – hängen Namen in schwarzen Buchstaben: Rosalie Geismar, Jenny Bergheimer, Ludwig Levy, Berta Kahn, Leopold Dreyfuss und 250 weitere – es sind die Namen der Jüdinnen und Juden, die 1933 in der Stadt lebten und in der Folge ins Exil gingen, deportiert oder ermordet wurden. Weil der Flur eng ist, streift man die Namen mit der Schulter, wenn jemand an einem vorbei will. So entsteht Nähe zu den Abwesenden.
Zuhause: Das Blaue Haus, Archiv, Bibliothek, Ausstellungen und Veranstaltungen gibt es dort, ist nicht Walesch-Schnellers Zuhause, aber doch auch. Hier verbringt sie viel Zeit – wird die Arbeit in ihrer psychotherapeutischen Praxis und der Schlaf nicht mitgerechnet, mehr Zeit als in ihrer Wohnung.
Nachkriegsgeneration: Walesch-Schneller ist 1950 in Göttingen geboren und „in relativer Armut aufgewachsen“, sagt sie, „zwei Zimmer zur Untermiete für sechs Personen“. Sie hatte zwei ältere Geschwister und einen jüngeren Bruder mit Down-Syndrom. „Da wusste ich noch nicht, dass meine Mutter BDM-Führerin war.“ BDM, Bund deutscher Mädel, die Nazi-Organisation für junge Frauen. Die Mutter hatte die Ideologie vom unwerten Leben geglaubt, und plötzlich hatte sie ein behindertes Kind. „Eine Riesenkränkung.“ Walesch-Schneller versucht als ausgezeichnete Schülerin einen Makel auszugleichen, „etwas gutzumachen für meine Mutter“. Ob ihr Vater auch Hitlerverehrer war, machte er nie klar. Dass sie Psychoanalytikerin wird, habe, meint sie, mit ihrer Suche nach Verstehen zu tun.
Die Freundin: Walesch-Schneller war sechs, als die Familie nach Hannover zog. In der Schule findet sie eine Freundin, ist oft bei ihr, lernt die Eltern kennen, nimmt Unterschiede wahr: „Die Wohnung war gut eingerichtet, die Freundin hatte ein Kindermädchen, eine andere Religion und außer einem Onkel in Amerika keine Verwandten.“ Dann der Schock: Ihre Freundin geht. Als deren Eltern, Auschwitzüberlebende, den Onkel in New York besuchen, entscheiden sie, auszuwandern. Für Walesch-Schneller war die Freundin plötzlich aus der Welt. „Wir haben uns dünne blaue Luftpostbriefe geschrieben.“
Ausbruch: „Ich war sehr unglücklich zu Hause.“ Als 15-Jährige kriegt sie mit, dass sie ein Austauschjahr im Ausland machen kann. Entschlossen bewirbt sie sich und darf in die USA, nach Washington. „Da bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie mir das ermöglichten.“ Sie landet in einem Milieu, wo viele Kinder von Holocaustüberlebenden waren, „ohne dass ich die Zusammenhänge kapierte“. Ihre Gastfamilie und die Eltern ihrer Freundin sorgen dafür, dass sich die Freundinnen treffen können. „Meine Freundin, gut behütet, durfte mir alleine New York zeigen.“ Kultur, Kunst, Konzerte – ihr wird alles geboten. Ein Freund von damals, Jonathan Holländer, spielt später im Blauen Haus noch eine Rolle.
Aufbruch: Sie ist 1967/68 in den USA, als die Tet-Offensive in Vietnam war, als Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet werden, als Antikriegsproteste und die Bürgerrechtsbewegung erstarken. „In kürzester Zeit kapierte ich, wie groß und schrecklich die Welt ist.“ Und dass Politik sie etwas angeht. „Ich habe massive Schuldgefühle wegen der Naziverbrechen entwickelt in der Zeit.“
Von Schuld zu Verantwortung: „Es liegen 30 Jahre dazwischen“, sagt sie. Dreißig Jahre, um da hinzukommen, dass die Nachkriegsgeneration keine Schuld hat, aber Verantwortung für das, was die vorangegangene Generation tat, übernehmen muss.
Politische Sozialisation: Sie studiert Sozialwissenschaften, aber es sind die Nach-68-Jahre. Schon am ersten Uni-Tag heißt es: streiken. „Man trifft Ältere, die in allen möglichen linken Gruppen sind, man folgt ihnen halbherzig, um sie nicht zu verlieren.“ Bald wechselt sie das Fach und auch die Stadt, zieht nach Freiburg. Dort gründet sie die erste Frauengruppe mit, wird nicht Lehrerin, sondern wechselt erneut, nun zur Medizin. In der Zeit entsteht die Umweltbewegung, sie ist gegen das geplante AKW in Wyhl am Kaiserstuhl – „von der Anatomie zur Platzbesetzung und zurück“.
Private Sozialisation: Sie lernt einen acht Jahre älteren Mann kennen, „Kriegskind“ aus einer nichtjüdischen Familie, die über Generationen in Palästina gelebt hatte, aber wegen der Nazis von dort ausgewiesen worden war. Er hatte eine Tochter – auf diese Weise wird sie Mutter. Zum Geldverdienen jobbt sie bei Pro Familia. Mit 30 beginnt sie in der Klinik zu arbeiten, will aber weiterstudieren und Psychoanalytikerin werden. Im Studium war sie auch von jüdischen Psychoanalytikern unterrichtet worden. „Sie wollten die jungen Deutschen fördern, aber über ihre Erlebnisse im Holocaust sprachen sie nicht.“
Krise: 1982 heiratet sie und zieht mit ihrem Mann, einem Arzt, nach Breisach. Sie bekommt eine Tochter. Das Kind ist sechs Jahre alt, als der Mann 1993 stirbt. Die nächsten Jahre kämpft sie mehr für die Tochter als für sich, ums Überleben.
Breisach: 1998 lädt die Stadt Überlebende und Nachkommen der jüdischen Breisacher ein; der Platz, wo einst die Synagoge stand, die in der Pogromnacht angezündet worden war, war neu gestaltet worden. Bei der Veranstaltung mit den Überlebenden habe niemand an einen Dolmetscher gedacht, Walesch-Schneller springt ein und übersetzt aus dem Englischen. In Breisach lebten vor dem Krieg verhältnismäßig viele Jüdinnen und Juden. Im 17. Jahrhundert nämlich, als die Stadt zu Frankreich gehörte, war ihnen – anders als in deutschen Gebieten – der Zuzug erlaubt.
Das Blaue Haus: 1999 gibt es einen Antrag, das ehemalige jüdische Gemeindehaus abzureißen. Die Denkmalbehörde sagt nein. Innerhalb kürzester Zeit gründet sich ein Förderverein, der das Haus kauft. „Wir wollten einen Ort, wo man über jede dieser Familien, die einst in Breisach lebten, etwas findet.“ Ihr Freund Jonathan Holländer, ein Choreograf, den sie im Austauschjahr kennenlernte und dem sie später viel vom Blauen Haus erzählt, darunter auch von der Familie Geismar, fragt sich eines Tages, ob seine Freundin, die Tänzerin Aviva Geismar, etwas mit Breisach zu tun hat. Sie fragt ihre Eltern, die nie über ihr Leben in Deutschland sprachen, ob sie von dort seien. Sie sagten ja. Seither gibt es immer wieder Tanz im Blauen Haus. Choreografien zur Geschichte. Mit Schülerinnen und Schülern. Und bald auch mit Flüchtlingen.
Zukunft: Dass sie so viel geschichtlichen Input in ihrem Leben hatte, sei ein Glück, sagt Walesch-Schneller. „Ich habe das aber auch immer gesucht.“ Jetzt sucht sie Jüngere, die das Haus lebendig halten.
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