Radikale Nicht nur Rechte, auch Linke, Wohlhabende, Körperbewusste fanatisieren sich und kapseln sich ein. Warum?: Nicht alles ist gut, aber alles ist klar
Von Peter Unfried
Völker dieser Welt“, sagt Christian Vagedes, „schaut auf die Veganerinnen und Veganer.“ Es ist Weltvegantag. Im Schatten des Brandenburger Tors in Berlin haben sich einige hundert Leute zusammengefunden. Um, wie Vagedes sagt, die Menschheit zu retten. Das gehe nur vegan. Und um für Milliarden zu sprechen, die das nicht könnten und litten. Milliarden Tiere. „Ich erkläre mit großer Freude den Krieg gegen die Tiere für beendet“, ruft der Präsident der „Veganen Gesellschaft Deutschlands“, seine von ihm selbst gegründete Plattform.
Veganer gelten als progressive Bewegung, die sich aktiv für eine Welt engagieren, in der keine Tiere getötet und missbraucht werden und deutlich weniger CO2 in die Atmosphäre gebracht wird. Eine gute Sache also.
Wenn man etwas erreichen will in dieser relativistischen Welt des Sowohl-als-auch, dann muss man radikal sein. Und sagen, was ist. Also dass es oberste Pflicht ist, den „größten Holocaust der Weltgeschichte“ zu beenden. So steht es im Internetforum vegan.info, so ähnlich steht es auf anderen Seiten. Kleiner haben sie es dort oft nicht.
Die Frage lautet: Wann hilft Radikalismus, und wann wird er schädlich?
Der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann sagt: „Es ist in Ordnung, solange man konsequent und radikal ein Ziel verfolgt. Schädlich wird es, wenn alles andere ausgeblendet wird außer dem einen überwertigen Ziel und es nur noch Freunde und Feinde gibt.“ Dann nennt man es nicht mehr radikal, sondern fanatisch. Dann geht es nie um die Lösung eines Problems, sondern immer nur um den Selbstbeweis der eigenen Handlungsmächtigkeit auch in unsicheren Zeiten wie diesen. Präziser als in Christian Vagedes’ Buch „veg up“ lasse sich das „Weltbild eines veganen Fanatismus kaum beschreiben“, der alles in Gut und Böse aufteile, um ein moralisch überlegenes und von allen Widersprüchen gereinigtes Welt- und Selbstbild aufzubauen.
Lantermann, 71, sitzt an diesem Herbsttag in einem Café im Berliner Bezirk Neukölln. Er trägt klassischen Intellektuellenstyle, Haar grau, Kleidung schwarz, ist aber von heiterem Gemüt. Diese Heiterkeit mit seiner Ruhrgebietsherkunft zu erklären, wäre ein stark vereinfachtes Gruppenkonzept. Lantermann ist emeritierter Professor in Kassel und untersucht seit über zehn Jahren die Radikalisierung der Gesellschaft. In seinem jüngst erschienenen Buch „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“ reduziert er das nicht auf den zu Rechtspopulismus und Xenophobie abdriftenden Teil der Gesellschaft.
Fanatismus gab es zu allen Zeiten, klar. Aber nun gebe es als Folge von Globalisierung, Neoliberalismus, Individualisierung. Prekarisierung und gesellschaftlicher Liberalisierung eine verstärkte Tendenz, sich selbst radikal in den Mittelpunkt eines entdifferenzierten Weltbilds zu stellen. Lantermanns Erkenntnis lautet: Die Grundstrukturen des Fanatischen sind die gleichen, ob im politischen Links- oder Rechtsspektrum, bei Fitnessjunkies oder eben bei Veganern.
Stimmt nicht, sagt Christian Vagedes, 42, am Telefon. Er lasse andere Weltbilder selbstverständlich gelten und erziele seine größten Erfolge, wenn Andersdenkende genauso wie er sich im Gespräch auf einen Kompromiss zubewegten. Man könne Veganer nicht gleichsetzen mit „Leuten, die ethisch völlig rückständig sind“.
Der Veganer sagt, es herrsche Krieg
Was seinen Auftritt am Brandenburger Tor angehe, so werde beim politischen Aschermittwoch auch zugespitzt. Das dürfe man nicht auf die Goldwaage legen. Aber nüchtern betrachtet handele es sich um Krieg, den die eine Spezies gegen die andere Spezies führe. Seine Frage sei, wer denn aus der Perspektive der Tiere der Fanatiker sei. Derjenige, der die Zustände kritisiere, oder der, der sie leugne?
Ernst-Dieter Lantermann verfolgt einen im Kern psychologischen Ansatz. Die Soziologie konzentriert sich auf die Radikalisierungsbedingungen, die von gesellschaftlichen Veränderungen ausgehen, etwa einer reformierten Sozialpolitik. Lantermann analysiert vorrangig, wie Menschen die äußeren Veränderungen wahrnehmen, deuten und innerlich verarbeiten.
Er unterscheidet zwei Grundtypen: Der eine Typus kann Unsicherheit gut aushalten und sucht und findet Strategien, sich der veränderten Welt anzupassen. Anpassung muss eben nicht nur der Fremde leisten, ist auch nicht auf Opportunismus und Mitläufertum zu reduzieren, sondern eine essenzielle Fähigkeit, um in einer sich schneller verändernden Welt klarzukommen.
Doch von dieser Dynamik der Veränderungen fühlt sich der zweite Typus überfordert und verunsichert. Er kommt nicht mehr mit und reagiert mit Einkapselung und Radikalisierung von Haltungen, um wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Fremdenfeindlichkeit ist der derzeit gefährlichste Weg, um gegen Gefühle zunehmender persönlicher und sozialer Unsicherheit „Sicherheitsgewinne“ zu verbuchen, wie Lantermann das nennt. Sie muss selbstverständlich begründet werden, also mit Gefahrenszenarien für Leben, Leib, Kultur und auch den eigenen Wohlstand durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung. Die Verdammung beinhaltet auch diejenigen Menschen, Parteien, Institutionen, die angeblich die Fremden bevorzugen und von denen sich die Radikalisierten im Stich gelassen fühlen.
Bei dem Versuch, die Radikalisierung zu verstehen, wird immer noch oft übersehen, dass es sich gerade auch bei Fremdenfeinden nicht um einen homogenen Volksstamm handelt. Sie haben vieles gemeinsam, aber es gibt auch zentrale Unterschiede.
Die einen haben wenig Geld und wenig Bildung, haben aber durchaus was geschafft im Leben, das sie jetzt durch die Flüchtlinge bedroht sehen. Die zweiten haben etwas Geld und Bildung, aber sehen die Zukunft düster, weil ihrer Meinung nach die Parteien und Politiker es nicht checken. Die dritten haben hohe Bildung, aber keine Berufskarriere gemacht und haben nun das Problem, dass sie sich als emanzipiert und liberal verstehen, aber trotzdem jemand zum Hassen brauchen. Sie stürzen sich auf die aus ihrer Sicht intoleranten Muslime, stilisieren sich selbst als humanen Gegensatz zu ihrem Feindbild und finden dadurch Halt.
Die vierte Gruppe nennt Lantermann die „grollende Elite“. Das sind gern ältere Konservative mit Karriere, die sich aber seit Jahren von Meinungsmachern und vor allem von CDU-Kanzlerin Merkel politisch ignoriert sehen. Nun dürfen sie in Talkshows oder an Debattenorte. Zu spät, aber immerhin. Dort sagen sie, was nun ihrer Meinung nach aus Verantwortung gegenüber dem Land gesagt werden muss, dass nämlich alles den Bach runtergeht, weil Merkel so verantwortungslos grün gehandelt hat, als sie diese ökonomisch und kulturell gefährlichen Flüchtlinge reinließ. Lantermann sagt das nicht, aber da fielen einem Namen wie Alexander Gauland, Roland Tichy, Berthold Kohler ein.
Eine Gruppe auf dem Rückzug sind die „erschöpften Wertnostalgiker“.
Ihnen ist die ganze Welt fremd und damit feindlich geworden. Sie sind dominiert von dem Gefühl, dass die Gesellschaft sich von ihnen abgewandt hat, hin zu Werten, die nicht die ihren sind: liberal, ökologisch, feministisch. Sie haben nicht Schritt gehalten, gaben auf und sind stehen geblieben. „Die paar Fortschritte, auf die wir so stolz sind, sind für die unverständlich“, sagt Lantermann. Das kann als Nostalgie in harmlosen Nörgelvarianten ausgelebt werden oder in radikalisierter Form zu einem Bruch mit der individualisierten, liberalen, heterogenen Gesellschaft führen.
Der Weg in die AfD ist ein sehr kurzer.
Die große Frage lautet: Worin besteht der Sicherheitsgewinn durch Fremdenfeindlichkeit? Er besteht darin, die Orientierung zurückzugewinnen, ein klares Wissen, was schiefläuft. Es ist nicht alles gut, aber alles klar. Man weiß, wo man steht, wo man hingehört, hat neue Verbündete; vor allem beweist man hohe Moral, gegen die Mainstreammehrheit für die gute Sache zu streiten.
Wie der Linkspopulist gegen den fatal danebenliegenden Mainstream einzutreten glaubt, und für das Volk, hier Arbeiter genannt, so versteht sich auch der rechte Fremdenfeind als anständig – gegen den Irrsinn der anderen. Das bringt ihm innere Stabilität zurück. Deswegen ist die Vorstellung irrig, man könne der Radikalisierung mit moralischen Argumenten begegnen. Ein aggressiver moralischer Imperativ der Liberalen treibt den Radikalisierten vollends in den Fanatismus. Dann ist er nur noch damit beschäftigt, seinen Hass zu nähren und der Gefahr der Reflexion und Differenzierung auszuweichen. Weil das mit der Rückkehr des Ohnmachtsgefühls verbunden wäre.
Einige Kritiker können nicht nachvollziehen, dass Lantermann Fremdenhasser, fanatische Veganer und Fitnessfanatiker nebeneinanderstellt. „Veganer sind keine Rassisten, Nationalisten oder darauf aus, ihre Feinde mit Gewalt zu vernichten“, sagt Lantermann. „Aber dennoch tragen fanatische Veganer, fanatische Fitnessjunkies und andere scheinbar private Spielarten des Fanatismus dazu bei, dass sich die Gesellschaft immer stärker polarisiert, immer stärker enthemmt, immer stärker verabschiedet von einer gemeinsamen, geteilten Idee eines gesellschaftlichen Ganzen.“
Auch bei Fitnessfanatikern könne man den Rückzug auf das Selbst nachvollziehen.
Was den anderen Selbstgerechtigkeit ist, ist ihnen Selbstoptimierung. Was dem Veganer Körperoptimierung durch Ernährung ist, ist ihnen Optimierung durch Training. „Das passiert vielleicht nicht auf Kosten, aber unter Ignorierung der Interessen anderer“, sagt Lantermann. Aber für den fanatischen Selbstoptimierer ist sein Körper in unsicheren Zeiten der letzte Ort, an dem Gestaltung und Kontrolle noch funktionieren.
Nicht der Kampf gegen die anderen, sondern die Vernichtung des Trägen, des Unmoralischen in sich selbst dient der Selbstversicherung. So beschäftigt mit sich, bleibt kein Raum für das Soziale. Das Interesse für das Gemeinschaftliche, für das der Sportverein steht, nimmt ab.
Der Versuch, seiner Entfremdung von der Welt durch Drill und Stabilisierung des Körpers beizukommen, ist ein essenzieller Teil des Gesamtwerks von Klaus Theweleit seit dessen Großwerk „Männerphantasien“. Zuletzt hat Theweleit seinen „fragmentierten Körperbegriff“ an dem rechtsextremistischen Terroristen und Massenmörder Anders Breivik neu justiert. Der soldatische Mensch kämpft gegen den Verlust seiner Konturen: In diese Richtung kann man denken, wenn Lantermann davon spricht, die harmlos daherkommende Fitnessentwicklung habe Fanatisierungspotenzial.
Die einen wählen nicht, andere bauen Mauern
Zu denen auf dem Rückzug aus der Gemeinschaft gehört auch eine ökonomische und zuletzt auch intellektuelle Elite. Die einen wählen ostentativ nicht mehr, weil angeblich alle Parteien jenseits der AfD austauschbare Positionen zu Globalisierung, Finanzkrise, Klimawandel haben. Oder weil sie glauben, dass es sie nicht tangiert.
Die anderen ziehen sich in sogenannte Gated Communitys zurück, in Wohnbesitz in urbanster Lage, aber hinter einer Mauer und einem Tor, das von Wachpersonal geschützt wird. Das habe eine andere Dimension als das übliche Mäuerchen vor einem Einfamilienhaus, sagt Lantermann.
Erst dadurch, dass Menschen hinter einer bewachten Mauer leben, fühlen sie sich wirklich bedroht. „Die Paradoxie der Sicherheit“ nennt Lantermann das. Und diejenigen, meist Einkommensschwächere, die vor der Mauer leben, müssen damit umgehen, dass sie von denen hinter der Mauer nicht als Mitbürger, sondern als Bedrohung gesehen werden. Selbstverständlich gab und gibt es Stadtteile, die ohne Mauer ökonomisch segregiert sind. Aber die Mauer der Gated Community ist ein sichtbares Monument einer aktiven Spaltung.
Eine bisher weitgehend vermiedene Frage ist, ob und wo wir es auch mit einer Radikalisierung von Linken und Minderheitsvertretern zu tun haben. Er zähle sich auch zu den „Linken“, sagt Lantermann. Aber: „Was Verabsolutierung der eigenen Position angeht, und dies alles aus allerbester Motivation, dann sehe ich durchaus unschöne Parallelen. Für viele unermüdlichen Kämpfer für die Rechte bestimmter Minderheitsgruppen hört die Toleranz offensichtlich auf, wenn manche Minderheitengruppierungen andere Überzeugungen vertreten als man selbst.“
Wenn man Lantermann weiterdenkt, ist nicht zu ignorieren, dass auch manche sich als Grüne, Linke oder gar Progressive verstehende Leute den Versuch unternehmen, der Verunsicherung und gefühlten Bedrohung ihrer Welt mit einer Radikalisierung der eigenen Gesinnung zu begegnen. Alles, was sie taten, ging von einer großen Sicherheit aus: Dass ihre eigene Seite immer die richtige Seite ist. Nun ist eins zum anderen gekommen, um daran zweifeln zu können. Was tun?
Radikalisierung des eigenen Lebens ist schwieriger. Das Geld muss ja reinkommen, das Rumgefliege ist kulturell praktisch nicht zu vermeiden, und die Zweitwohnung in Berlin hat man wegen der Enkel. Oder der Eltern. Aber jetzt: Endlich wieder Böse, die man als Gruppe kategorial abwertet. Hier die Moralreichen, da die Moralarmen.
Häufig wird das von der Annahme begleitet, man sei entweder für oder gegen die offene Gesellschaft. Bei manchen Menschen ist das so. Bei der Mehrheit aber kommt es auf das politische „Framing“ an, also den Rahmen, in dem man sie fragt. In Österreich war Mitte letzten Jahres eine absolute Mehrheit sowohl Pro-Flüchtlinge als auch Pro-Abschottung. Viele Menschen sind für die EU und dagegen. Dafür, dass gegen Klimawandel was passiert, dagegen, dass sie selbst bezahlen. Dagegen, dass man mit Erdoğan dealt, aber dafür, dass nicht mehr so viele Geflüchtete ins Land kommen wie 2015.
Ob das von rechts oder links passiert: Die Gleichstellung dieser „Mitte“ mit politischem oder gar moralischem Substanzverlust ist ein radikaler Irrtum. Wer die eigene Position verabsolutiert, auch die aus seiner Sicht moralisch ideale, schwächt die auf Kompromiss angelegte demokratische Gesellschaft. Wenn mancher Grüne oder Linke in seiner ehrlichen oder strategischen Empörung CSU-Politiker oder gar Politiker der eigenen Partei mit dem handelsüblichen Diktum beschimpft, sie betrieben „das Geschäft der AfD“, dann betreibt er das Geschäft der AfD – nämlich die Spaltung zu vergrößern. Und er verkleinert das Feld jenseits der AfD. Es geht häufig nicht darum, die Demokratie zu stärken, sondern das eigene Selbstwertgefühl. Deshalb kommen diese Statements oft von Politikerinnen, die nach „innen“ sprechen, also zum angenommenen Kern der eigenen Partei. Gesellschaftlich ist das laut Lantermann fatal, denn alle Strategien, die nach innen gerichtet sind, vergrößern die Spaltung und verhärten die Lage.
Auch manche Minderheitenvertreter oder -lobbyisten empfinden die Infragestellung der gesellschaftlichen Liberalisierung durch eine aufbegehrende andere Minderheit als Unsicherheit und Gefahr. Auch sie brauchen Halt und wittern Verschwörungen. Etwa wenn der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg erklärt, die klassische Ehe sei die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen, und das sei gut so. Der Fakt ist unstrittig, die Mehrheit ist heterosexuell, da bietet sich das aus vielen Gründen an. Die Bewertung hätte er sich sparen können.
Gibt es eine Zukunft mit dem Gegner?
Das Bemerkenswerte ist, dass einige Homosexuelle und Minderheitenpolitiker mit der Figur reagierten, die auch den verängstigten nach rechts kippenden Kleinbürger umtreibt: Sie schrien auf, weil sie nicht explizit genannt wurden und fürchteten, nicht mehr dazuzugehören. Kretschmann musste eine Selbstverständlichkeit nachschieben; nämlich, dass er für die Homoehe sei.
Die einen rufen: Überall Homos. Die anderen: Überall Homophobie. So etwas nutzt am Ende nur den illiberalen Kräften. Das Gift des Dauerverdachts schwächt die liberale Gesellschaft und stärkt ihre Gegner. Und dahinter steht der riesige Elefant im Raum, über den nicht gesprochen werden kann: die Frage, wie Politiker in Regierungsverantwortung die liberalen Errungenschaften bewahren und gleichzeitig das Gemeinwohl voranbringen, wenn es mit dem als „Freiheit“ verteidigten Individualismus kollidiert, etwa beim Rauchen. Oder wenn gesellschaftlicher Fortschritt eben nicht in progressiven Minderheitsverästelungen bemessen wird.
Das Wort Gegner ist für Lantermann übrigens der entscheidende Begriff: Die Eskalation beginnt, wenn man den Gegner als Feind betrachten zu müssen glaubt. Wer sich keine Zukunft mehr vorstellen kann, in der auch der Gegner seinen Platz findet, der muss auf dessen Vernichtung zielen.
Veganismus kann eine souveräne Ethik-, Lebensstil- oder Gesundheitsentscheidung sein. Es kann aber auch eine Flucht sein in eine überschaubare, sicherheitsspendende Welt der Gleichgesinnten, der klaren Abgrenzung von Feinden. In manchen Veganer-Foren werden auch Vegetarier als „Mörder“ eingestuft. Omnivore Mitmenschen sind „Leichenfresser“ und „Mörder aus Lust und Fresssucht“. Das ist definitiv kein Ansatz, um die ihrerseits häufig verunsicherten Fleischesser zu einem veränderten Lebensstil anzuregen.
Der Veganer sei deshalb ein so präzise zu analysierender Typus, weil er in seinen Foren detailliert Auskunft über sich gibt. „Das sind keine Sonderfälle, sondern aus dem Material wird eine klare innere Dynamik vom Radikalismus zum Fanatismus belegbar“, sagt Lantermann. Es zeigten sich hier Strukturen, die bei anderen fanatischen Gruppen auch existierten, aber nicht so offen dargelegt würden.
Die RAF gestand ihren Feinden keine Rechte zu
Warum ist Radikalisierung attraktiv? Die Forschung hat für junge islamistische Extremisten Gründe identifiziert, sie könnten auch Erklärungen für die deutsche Alltagsradikalisierung bieten:
Identität und Geborgenheit, spirituelle Heimat
Wissen und exklusiver Wahrheitsanspruch
eindeutige Wertezuschreibungen mit klaren Unterscheidungen zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“
charismatische Autoritäten, (nicht denken müssen, folgen dürfen)
Gerechtigkeitsutopie, Notwehr gegen Verfolgung durch die „anderen“
öffentliche Aufmerksamkeit, ermöglicht das Abgrenzen von der Erwachsenenwelt, der Gesellschaft
höhere Legitimation für Gewalthandlung und Entladung des eigenen Hasses
In seinem Buch „veg up“ will Christian Vagedes „die ganze wahrheit“ sagen, „um den westen und die ganze welt aus dem geistig-kulturellen abdruck des menschlichen fehlverhaltens wachzurütteln“. Vagedes ist Designer und war inspiriert von dem Grafiker Otl Aicher und der politischen Dimension der Kleinschreibung. Sie symbolisierte den radikalen Bruch mit dem Bestehenden, stand für das Revolutionäre, Kämpferische.
Mit Kleinschreibung arbeitete in den westdeutschen 1970ern die linke Terrorgruppe RAF, deren Kampf gegen den angeblich bevorstehenden „neuen Faschismus“ in totalitären Fanatismus übergegangen war. Menschen mit anderen Einstellungen wurden keine Rechte mehr zugestanden, auch nicht auf Leben. Es gab nur noch Freund und Feind oder, wie RAF-Chefin Ulrike Meinhof unterschied: „Mensch oder Schwein?“
Anders als bei fanatischen Veganern durfte bei der RAF auf Schweine ausdrücklich geschossen werden.
Die Neuauflage seines Buches, sagt Christian Vagedes, werde in konventioneller Schreibweise erscheinen. Einige Leute wären durch die Kleinschrift abgeschreckt worden.
Peter Unfried, 53, taz-Chefreporter, isst 15 Kilo Fleisch im Jahr
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