Gedenken an Restaurantkritiker: Was bleibt von Onkel Wolfram?
Als Restaurantkritiker hat Wolfram Siebeck (1928-2016) den Deutschen das Essen beigebracht. Aber was hat er sich selbst gekocht? Ein Gedächtnisessen.
Wie stand der Kritiker wohl zum Nachsalzen, fragt Vijay Sapre nach dem ersten Bissen. „Ablehnend“, schätzt Thomas Platt und greift zum Salz. „Siebeck hätte die Gelegenheit genutzt, dieses gedankenlose Nachsalzen im Restaurant anzuprangern. Oder, wenn Salz tatsächlich gefehlt hätte, es dem Koch angekreidet.“
Wir lachen über den Gedanken, uns nun eine kleine Prise Zorn zuzuziehen. Vijay Sapre ist Chefredakteur und Herausgeber von Effilee, Deutschlands wichtigstem Kochmagazin, Thomas Platt Restaurantkritiker für namhafte deutsche Zeitungen. Aber wir finden, mehr Salz am Essighuhn kann nicht schaden.
Was bleibt von Menschen nach ihrem Tod? Private Andenken sind oft die kostbarsten. Oft ist es ein Gericht, das Menschen im Gedächtnis hält. Tante Maries Marmorkuchen etwa.
Und wie ist das mit dem Mann, von dem es heißt, er hätte den Deutschen das Essen beigebracht? Wolfram Siebeck, der im Juni mit 85 Jahren gestorben ist, hat viele Titel bekommen. Küchenpapst, Vorkoster der Nation. Zu Tausenden stehen seine Kochbücher in deutschen Regalen. Also kochen wir. Welches Rezept bleibt von Onkel Wolle?
Auf dem Küchentresen steht der Karton mit dem Einkauf: ein Bressehuhn, eine Handvoll Austern und Zanderfilets, ein Hummer, Butter und Eier. Die Küche von Vijay Sapre ist unser Geschichtslabor. Die Luft über der Eisenplatte auf dem großen roten Molteni-Herd flimmert schon. Vor dem Fenster drängen sich zwei Containerschiffe durch den Novemberdunst über der Elbe.
„Wenn Madame den Deckel hebt“
Nach einem Glas Champagner und dem Blick in einige von Siebecks Kochbüchern werden hier Töpfe und Pfannen gerückt. Auf dem Plan stehen überbackene Austern, Essighuhn, Fischklößchen mit Safran-Sabayon auf Chicoree, Hummer nature. Rezepte aus über 40 Jahren, entnommen aus dem „Kochbuch für Anspruchsvolle“, Siebecks erstem, erschienen 1976, aus „Wenn Madame den Deckel hebt“, das als „Kochseminar der bürgerlichen französischen Küche“ zehn Jahre später herauskam, und „Deutsche Küche“ von 2010.
Genscher. Westerwelle. Scheel. Drei ehemalige FDP-Außenminister sind 2016 gestorben. Ein vierter, Klaus Kinkel, redet über den Tod und seine Partei. Das Gespräch lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 31. Dezember, in der wir auf die Toten des Jahres zurückblicken, darunter Zaha Hadid, Jutta Limbach, Muhammed Ali und Fidel Castro. Außerdem: ein Comic erzählt die Geschichte von Mohamad Waseem Maaz, der in Aleppo als Kinderarzt Leben rettete. Und: Schon über 16 Jahre arbeitet David Brighton als David-Bowie-Double. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Sie bilden eine Zeitspanne ab, die kulinarisch Jahrhunderte ausmachen. In den 70ern machten die Deutschen Bekanntschaft mit Nudel und Pizza, es war, so Platt, die Ära der Mousse au Chocolat. In den 80ern folgte das Tiramisu, das Ende der 90er in die anhaltende Phase der Crème brûlée überging. Siebecks Rezepte hingegen bewahren über die Jahre Kontinuität. Hummer, Schmorhuhn, Fischklößchen. „Man sieht sein großes Faible für die französische Bistro-Küche“, sagt Platt.
Während Vijay Sapre das Huhn nach Anweisung des Meisters in acht Teile zerlegt (die Keulen werden am Gelenk halbiert), mache ich mich an die überbackenen Austern. Die Austern werden ausgelöst, das Muschelfleisch kommt kurz in die heiße Pfanne und dann in die Schalen zurück. Das Muschelwasser wird mit einem Schuss Sahne und Eigelb legiert, dann über das Austernfleisch gegeben und mit geriebenem Gruyère, einem Schweizer Bergkäse, bestreut. Dann geht es kurz unter den heißen Grill, um die Austern zu überbacken.
Die Kraft der Auster
Siebeck ließ dieses Rezept 1976 als Einsteiger-Zubereitung zu. Heute, in Zeiten, da Menschen Sushi statt Mettbrötchen als Snack für eine Zugfahrt einpacken, scheint es noch mehr aus der Zeit gefallen. Kann die Auster bei Käse, Ei und Sahne gegenhalten? Sie kann. Es ist wie ein kleiner Löffel Fondue, aus dem eine ozeanische Blase aufsteigt. „Da sieht man die Kraft, die eine Auster hat“, meint Vijay Sapre, als wir das kleine Amuse-Geule mit einem Schluck Mersault herunterspülen.
Wir müssen uns beeilen, das Essighuhn ist gleich fertig. Thomas Platt erzählt von seiner letzten Begegnung mit Siebeck in dessen Zuhause auf Schloss Mahlberg an der französischen Grenze, vor eineinhalb Jahren. Das Blechschild mit „Dogs welcome“, das ihn und seinen Hund Emma am Eingang begrüßte, ist ihm noch in Erinnerung.
Zutaten: 1 Bressehuhn (zerlegt), 8 Frühlingszwiebeln in Ringe geschnitten, 1 Karotte in feinen Streifen, 2 Knoblauchzehen (dünne Scheiben), eine Handvoll Champignons in Vierteln, Estragonessig, Weißwein, Hühnerfond, 4 Tomaten (gehäutet und gewürfelt), evtl. Sahne.
Zubereitung: Hühnerteile in einem Schmortopf goldbraun anbraten, Zwiebeln, Karotten und Knoblauch dazugeben, mit Wein, Essig und Fond zu gleichen Teilen ablöschen, Flüssigkeit darf 2 cm im Topf stehen. Topf schließen und 20 Minuten bei 180 Grad in den vorgeheizten Backofen stellen, dann Bruststücke herausnehmen. Weitere 15 Minuten im Ofen garen. Tomaten, separat angebratene Champignons dazugeben, noch einige Minuten köcheln lassen, mit Pfeffer, Salz und evtl. Sahne abschmecken.
Siebeck, selbst Katzenfreund, hatte auch was für Hunde übrig. Platt erzählt von der warmen Gastfreundschaft von Frau Barbara und Siebecks ausgeblichenen Panama-Hut an der Garderobe. Viele Male waren Literatur und Kunst Thema ihrer Treffen gewesen, diesmal sollte es ums Essen gehen und das Schreiben darüber. Was in Redaktionen als leichte Kost gilt, erfordert Ernst und Strenge. Und doch, sagt Platt, in der Nachschau umgab den Kritiker schon eine Aura von Entrücktheit.
Die Kasserole steht auf dem Tisch. Goldbraun liegt das Huhn im tomatisierten Essigsud. Wir sind von der ansprechenden Säure des Gerichts überrascht. Nichts von der bitteren Firnis, wenn der Rotwein im Coq au vin einkocht, und doch charaktervoller als ein Huhn in Weißwein. Interessant, wie Brust und Keule ausdifferenziert sind: die Schenkel rustikal-deftiger, die Brust saftig mit einer dezenten Estragon-Note.
Mit Essig ist nicht zu geizen
Würde man den Fond weiter reduzieren und mit modernen Methoden binden, vielleicht Xanthan, meint Sapre, wäre das Gericht ein Kandidat für das Gourmetlokal. Siebeck dagegen bekannte noch in der letzten Version seines Rezepts, mit Essig nicht zu geizen und überschüssige Säure mit Sahne zu mildern.
Hier war er ein Linker, wirft Thomas Platt ein, denn noch eben hatte uns die Frage beschäftigt, ob kulinarische Kritik auch politisch gefärbt sein kann. „Mit Sahne kocht man, damit alle genug bekommen.“
Es stehen noch die Fischklößchen aus. Wir schmunzeln über Siebecks Anleitung, kochendes Wasser auf die zarten Bällchen aus Zanderfarce zu schütten. Sie gleiten vorsichtig in den Sud. Noch eine Flasche Wein kommt auf den Tisch und der Hummer, diesmal nicht à la Siebeck, sondern à la Sapre, mit Kimchi-Mayonaise. Draußen legt sich die Nacht über die Elbe, die Dunkelheit suppt ins Dachgeschoss.
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