: Das Zimmer im Haus St. Martin
PROMI Richard Brox ist der bekannteste Obdachlose Deutschlands. Er testet und bewertet Unterkünfte für die Nacht
■ Die Person: Richard Brox, 48 Jahre alt, ist obdachlos und engagiert sich für andere Obdachlose. 2009 half er dem Journalisten Günter Wallraff bei einer Recherche über das Leben auf der Straße.
■ Das Engagement: 2004 suchte Brox im Internet nach Informationen über Obdachlosenunterkünfte – und war enttäuscht, weil er keine fand. Er entschied sich, eine eigene Plattform aufzubauen. Auf ohnewohnung-wasnun.de finden Obdachlose Adressen von Unterkünften in ganz Deutschland, die Brox selbst testet und ausführlich beschreibt.
■ Die Beratung: Auf seiner Seite beantwortet Brox oft gestellte Fragen zum Thema Obdachlosigkeit und gibt Überlebenstipps für Menschen, die den Winter auf der Straße verbringen müssen.
AUS MANNHEIM UND LUDWIGSHAFEN SEBASTIAN GUBERNATOR
Er sagt, er sei vor drei Jahren gestorben. Damals, in einer Sommernacht in Colmar, Elsass, als er in einem Schlafsack lag und fünf Jugendliche über ihn herfielen. Sie schlugen in seinen Bauch, sie traten in seine Wirbelsäule. Sie brachen seinen Glauben an eine gerechte Gesellschaft.
Richard Brox sitzt in einer Obdachlosenunterkunft in Ludwigshafen, ein bärtiger Mann mit Brille, 48 Jahre alt.
Brox ist vielleicht der bekannteste Obdachlose Deutschlands. Er betreibt mehrere Internetseiten, unter anderem das Portal ohnewohnung-wasnun.de. Dort hat er fast 900 Obdachlosenunterkünfte in deutschen Städten aufgelistet. Alle hat er selbst getestet.
Nur was ihm sauber und sicher genug erschien, setzte er ins Internet, in Ludwigshafen war das nur eine Unterkunft: das Haus St. Martin, eine Einrichtung der Caritas.
Adresse und Telefonnummer stehen auf Brox’ Website, auch die Aufnahmezeiten und Details zu den Zimmern; ein „M.“ zeigt an, dass die Unterkunft für Männer ist. Obdachlose können all diese Informationen abrufen, die meisten machen das in Internetcafés, sagt Brox.
Seine Internetseiten haben ihn bekannt gemacht. Richard Brox, der Obdachlose ohne Schulabschluss, ist ein Lobbyist mit Medienpräsenz geworden: Die Frankfurter Rundschau hat über ihn geschrieben, die Süddeutsche Zeitung hat ihn interviewt, auf RTL Hessen war er mehrmals zu sehen. 2008 kam Günter Wallraff auf ihn zu. Er schrieb eine Reportage über Obdachlosigkeit, Brox führte ihn in die Szene ein.
Das Haus St. Martin liegt im Schatten des BASF-Werks, riesige Schornsteine, Qualm, nachts wacht man auf, weil Lastwagen mit dröhnenden Motoren an der Unterkunft vorbeifahren. Trotzdem sagt Brox: „Das Haus St. Martin zählt zu den besseren Wohnheimen in Deutschland.“ Es gibt Duschen, die Sozialarbeiter behandeln einen mit Respekt. Richard Brox kommt seit Jahren immer mal wieder hierher. Heute wird er die Nacht hier verbringen, doch zuerst gibt es Abendessen im Aufenthaltsraum: Neun Menschen sitzen dort, umgeben von Topfpflanzen und blassgelben Tapeten. An einer Wand hängt ein ausgemergelter Christus am Kreuz, es gibt Salat und Fleischkäse, dazu Gespräche über Krankheiten und Politik. Man streitet über die Frage, ob man als Obdachloser überhaupt etwas verändern kann. „Natürlich kann man“, sagt Richard Brox. Er weiß das.
Angefangen hat sein Engagement im November 1999 in Berlin. Richard Brox ging in ein Internetcafé, obwohl er keine Ahnung vom Internet hatte; draußen regnete es, und er wollte sich aufwärmen. Ein paar junge Menschen verpassten ihm einen Computerkurs. Drei Stunden später hatte er eine E-Mail-Adresse und seine erste Website. Er wurde Richard Brox, der Lobbyist der Obdachlosen.
Warum macht Brox all das – all die Gespräche mit den Journalisten, all den Aufwand mit seinen Internetseiten? Wahrscheinlich auch wegen jener Nacht in Colmar, in der er zusammengeschlagen wurde. Seitdem hat Brox eine Gehbehinderung, in der Fachsprache: eine dissoziative Bewegungsstörung.
Es gibt Menschen, die kein Verständnis dafür haben. Sie lachen ihn aus, grenzen sich von ihm ab, beschimpfen ihn als schwul, weil er so merkwürdig geht. „Nur wenige sehen mich als Menschen. Man betrachtet mich als Kreatur, die mit Füßen zu treten ist.“
In Gesprächen mit Journalisten prangert er die Ungerechtigkeiten dieser Welt an, weil er sie selbst erlebt. Vielleicht kann ein Interview in der Zeitung, ein Auftritt in einer Talkshow die Gesellschaft ja doch verändern. Dass die Welt ungerecht ist, hat Brox sehr früh erlebt. Es begann in Mannheim, seiner Geburtsstadt, unweit von Ludwigshafen, auf der anderen Seite des Rheins.
An diesem Morgen kehrt er zurück. Richard Brox sitzt in der Straßenbahn, Linie 1, in der Hand hält er einen 99-Cent-Kaffee aus einer Bäckerei. Er hat schlecht geschlafen im Haus St. Martin, jetzt blickt er müde aus dem Fenster.
Die Stadt wird hässlicher, graubraune Fassaden ziehen vorüber, geschlossene Jalousien, dann, angekommen in Mannheim-Schönau: Endstation. Richard Brox steigt hier aus, zum ersten Mal nach 19 Jahren. Schönau gilt als Problemviertel. Es ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und riesigen Sozialwohnungsbauten.
An der Endstation der Linie 1 treffen sich regelmäßig Alkoholiker und versuchen, sich den Frust wegzusaufen. Hier hat Richard Brox die ersten Jahre seines Lebens verbracht, in einem großen Klotz, Hausnummer 6, Wohnung im Parterre. Der Putz ist grau und bröckelt.
Brox steht davor, die Hände in den Manteltaschen, erinnert er sich: Der Vater, der betrunken ist, schlägt. Die Mutter, die Klavier spielt, um sich zu beruhigen. Als er fünf ist, holt ihn das Jugendamt raus, doch es wird nicht besser: Er kommt zu Pflegeeltern, kommt in Kinderheime, wird sexuell missbraucht, sagt Brox. Er landet auf der Straße und nimmt Kokain.
Erst Ende der achtziger Jahre rappelt er sich wieder auf. Brox, damals Mitte zwanzig, macht einen Entzug und beginnt ein neues Leben. Er reist als Obdachloser durch Deutschland, lernt das Internet kennen und Günter Wallraff. Es ist eine Befreiung aus den Fesseln seiner Kindheit. Jetzt also wieder: Schönau. Reise in die Vergangenheit.
Ein alter Mann kommt vorbei und grüßt mit krächzender Stimme. Brox unterhält sich kurz mit ihm; als der Mann geht, ruft Brox ihm hinterher: „Schäne Zeit, alles Gude, gell!“ Mannheimer Dialekt.
Brox schaut auf die Uhr, die Zeit drängt, sein Leben ist voller Termine. Heute wird er einen Journalisten vom SWR treffen. Ein letzter Blick auf das alte Haus: „Ich bin froh, dass ich nicht mehr hier lebe.“
Der Journalist heißt Sebastian Barth, ein schlanker Mann mit leiser, angenehmer Radiostimme. Die beiden kennen sich schon länger, seit Ende 2007 oder Anfang 2008, so genau können sie das nicht sagen. Damals ist Brox einfach ins Funkhaus marschiert und hat sich vorgestellt. Ein Lobbyist darf eben nicht schüchtern sein.
Die Flure im Funkhaus sind strahlend weiß. Sebastian Barth macht Kaffee für seinen Gast, die Maschine brummt und zischt, dann verschwinden sie in einem Studio. Eine Stunde später ist das Interview fertig. Barth wird es noch ein wenig kürzen, 25 Minuten sollen es am Ende sein, in denen Brox über sein Leben und seine ehrenamtliche Arbeit spricht. Im Januar soll es gesendet werden.
Im Januar? Nein, das ist Richard Brox zu spät: „Da ist Weihnachten vorbei, da interessiert sich keiner mehr dafür!“ Brox will mitreden, wenn Journalisten etwas über ihn machen. Manchmal übertreibt er es. Dann ruft er in den Redaktionen an, stellt Fragen, macht Vorschläge: Kann man den Artikel vielleicht etwas länger machen? Den Beitrag doch zu einer anderen Zeit senden? Eine gewisse Aufdringlichkeit ist Teil seiner Arbeit. Sebastian Barth versteht seine Bedenken. „Das ist das Blöde am Thema Obdachlosigkeit“, sagt er. „Die Leute hören das, finden es schlimm und vergessen es ganz schnell wieder.“ Trotzdem, es bleibt bei Januar. Brox muss noch etwas auf den Beitrag warten.
Am Abend, einige Stunden nach dem Interview, ist Brox wieder in Ludwigshafen. Er steht am Bahnhof und wartet auf den Zug nach Gelsenkirchen. Die Kälte kriecht unter die Jacke, in die Schuhe, setzt sich fest und will nicht wieder raus.
In Rostock ist neulich ein Obdachloser erfroren. Er hatte in einem Park übernachtet, bei 2 Grad Celsius, der Notarzt konnte nichts mehr tun. Vermutlich das erste Kälteopfer in diesem Winter. Weiß Brox eigentlich schon, wo er Weihnachten verbringen wird?
Weiß er nicht. „Ich hoffe, dass die Weihnachtszeit schnell vorübergeht.“
Weihnachten tut weh. Andere haben an Weihnachten ein Wohnzimmer und einen Tannenbaum.
Er, Richard Brox, hat das nicht.
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