: 47,60 – Denkmal oder Mahnmal
Im wiedervereinigten Deutschland ist Marita Koch fast vergessen. Dabei hält sie den unglaublichsten Weltrekord der Leichtathletik. Heute vor 20 Jahren lief sie 47,60 Sekunden über 400 Meter. DDR-Staatsdoping, alles dokumentiert, sagt Dopingaufklärer Dr. Werner Franke. „Totaler Quatsch“, sagt Koch. Ein Besuch
AUS ROSTOCK JUTTA HEESS
Es ist ein schickes Bekleidungsgeschäft, hier in der Rostocker Fußgängerzone. Nicht ganz billige Ware in einem imposanten Gebäude. Hohe Decken mit Malereiresten und alten Balken, eine antike Holztür. „Das Haus steht unter Denkmalschutz“, sagt Marita Meier-Koch. Sie ist die Inhaberin des Ladens und ihr geht es im Grunde ähnlich. Besser gesagt ihrem Weltrekord über 400 Meter, den sie heute vor 20 Jahren aufgestellt hat. 47,60 Sekunden, das ist eine so genannte Fabelzeit. Sie blieb seither unangetastet. Ein Denkmal, das nicht wackelt, für die einen – ein Mahnmal, das aus dem systematischen DDR-Doping resultiert, für die anderen.
Für Werner Franke zum Beispiel, den Molekularbiologen aus Heidelberg, der gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Berendonk die flächendeckenden Doping-Praktiken der DDR aufgedeckt hat. Auf Koch angesprochen, raunzt er herzhaft ins Telefon: „Seit 1991 sind genügend wissenschaftliche Dokumente mit ihren Doping-Dosierungen veröffentlicht, Dokumente, die auch gerichtlich anerkannt sind.“ Unverzüglich legt er zahlreiche Akten ins Faxgerät, die den Zusammenhang Koch und Doping herstellen: eine Tabelle des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport in Leipzig, aus der die Dosierung von Oral-Turinabol in den Jahren 1981 bis 1984 für DDR-Athleten – auch für Marita Koch – abzulesen ist. Oder einen Hinweis des DDR-Hormonexperten Michael Oettel auf einen Brief, den Marita Koch an Jenapharm, den staatlichen Doping-Produzenten, geschrieben hat, mit der Bitte um stärkere Anabolika. Franke sagt: „Es muss endlich Schluss sein mit der Ossi-Doping-Lügerei.“
Marita Koch kennt diese Vorwürfe. Sie sitzt jetzt im Restaurant neben ihrem Geschäft. „Wenn man vor sich selbst ein gutes Gewissen haben konnte, hat man auch gelernt, mit den Vorhaltungen zu leben“, sagt sie ruhig. „Viele meinen, etwas über mich aus irgendwelchen komischen Unterlagen zu wissen. Die belegen überhaupt nicht, was man wirklich gemacht hat.“
Auch nicht die exakten Angaben über die Zuteilung der Doping-Pillen?
„Das ist totaler Quatsch, nur weil es irgendwo geschrieben stand. Das ist das, was ausgeben wurde, man konnte das sogar noch in Empfang nehmen. Aber es ist ja eine andere Sache, was man damit gemacht hat.“
Sie habe damals Medizin studiert und gewusst, „welche Nebenwirkungen auftreten können, wenn man die Mittel nimmt. Man hat versucht, sich dem zu entziehen, wie man konnte.“
Was heißt das? Sie zitiert ihren damaligen Trainer und heutigen Ehemann Wolfgang Meier: „Wir machen das nicht“, hat er gesagt.
In einem Treffbericht aus dem Jahr 1983, aufgezeichnet von Manfred Höppner, dem stellvertretenden Chef des Medizinischen Dienstes der DDR alias „IM Technik“, steht jedoch, dass Meier bulgarische Pharmaka „bei der Koch zur Anwendung gebracht hat“.
Auch das bringt Marita Koch heute nicht aus der Ruhe. Wenn sie etwas ärgert, dann nach wie vor die einseitige und pauschale Verurteilung des DDR-Sports. Doping sei doch ein weltweites Thema. Noch mal: „Jeder weiß, was er selbst gemacht hat.“
Ähnlich argumentiert Heinz Florian Oertel, der bekannteste Sportreporter der DDR. „Ich verurteile die gezielte Verdächtigung von DDR-Sportlern, genauso wie ich das Doping verurteile.“ Dennoch gibt er im Telefongespräch zu, dass die angeführten Weltrekorde (siehe Kasten) unter dem üblichen weltweiten Verdacht stehen. „Aber nicht alle müssen gedopt gewesen sein. Man kann es nicht beweisen. Und die Vorwürfe betreffen doch genauso die USA, Westdeutsche, Franzosen und so weiter. Auch heute wird gedopt auf Teufel komm raus. Doping wird uns immer begleiten.“
Nicht weniger leidenschaftlich schildert er Kochs Weltrekordlauf am 6. Oktober 1985 beim Weltcup in Canberra, Australien. „Wir haben das Ereignis übertragen. Es war eine Sensation, nicht dass Marita gewinnt, aber die Zeit.“ 47,60 Sekunden. „Marita war eine Ausnahmeathletin.“
Marita Koch erzählt, dass ihr vor dem Rennen mal wieder schlecht gewesen sei. „Ich war immer total aufgeregt.“ Eigentlich habe sie schon ein Jahr vorher ihre Karriere beenden wollen. Nachdem aber die DDR die Olympischen Spiele in Los Angeles boykottiert hatte, habe sie gedacht: „So kann ich nicht aufhören.“ Und: „Ein Weltcup in Australien war ja auch sehr verlockend für eine DDR-Bürgerin.“ Sie hat dann gezielt auf einen neuen Weltrekord hin trainiert. Ihren alten hatte die Tschechin Jarmila Kratochvilova zwei Jahre vorher gebrochen. „Schon während des Rennens ging ein Raunen durch das Publikum. Im Ziel schaute ich auf die Anzeige: 47,60 Sekunden.“
Na ja, ein bisschen stolz sei sie schon, dass dieser Weltrekord noch ungebrochen ist, sagt sie. 16 Weltrekorde ist sie in ihrem Leben gelaufen. Aber nun führe sie eben ein neues Leben. Zwei Geschäfte hat sie in Rostock. Es sind keine Ruhmeshallen. Keine Pokale, Medaillen oder Fotos. „Hin und wieder spricht mich jemand drauf an, überwiegend Leute aus dem Osten.“
Es stimmt also, was Heinz Florian Oertel am Telefon sagte? „Unter DDR-Sportanhängern wird Marita Koch hoch verehrt, in der alten BRD ist sie fast vergessen.“ Marita Koch nickt. Ein bisschen schade findet sie es dann doch, dass ihrer Leistung so wenig gedacht wird. „Es waren ein paar Journalisten hier, aber fast nur die regionale Presse. Und am Tag des Weltrekords werde ich mit meinem Mann und meiner Tochter ins Rathaus eingeladen.“
Boris Becker hat vor 20 Jahren zum ersten Mal Wimbledon gewonnen. Dass überall gefeiert wurde, ist ihr nicht entgangen. „Man ist nach der Wende nicht sehr pfleglich mit uns DDR-Sportlern umgegangen“, sagt sie.
Eines Tages wird selbst ihr Rekord unterboten werden, da ist sie sicher. Allzu nah scheint der Tag nicht. Einmal näherte sich eine Athletin. Es war die Französin Marie-José Perec 1996 mit 48,25 Sekunden. Seither nicht mehr. Die schnellste war Tonique Williams-Darling von den Bahamas im Jahr 2004 (49,07 Sekunden). Die deutsche Bestleistung des Jahres 2005 hält bisher Claudia Marx. 52,07 – viereinhalb Sekunden langsamer. Wie geht Marx damit um? Na ja, sagt sie vorsichtig, es werde „sehr, sehr schwierig, jemals in die Bereiche vorzudringen, die Marita Koch erreicht hat“. Im Übrigen habe sie „höchsten Respekt verdient“.
Sind die 47,60 Sekunden, die diese Frau in ihrem früherem Leben erzielt hat, für die Ewigkeit? Immer wieder wird diskutiert, ob man verdächtige Rekorde, so genannte Doping-Rekorde (siehe Infokasten), aus den Bestenlisten streichen solle, auch Marita Kochs Rekord wird dazu gezählt. Werner Franke, der Doping-Aufklärer, ist strikt gegen die Annullierung. Ironisch zitiert er den ehemaligen Hürdeneuropameister Harald Schmid, der sagte, die Rekorde müssen bleiben und immer im Fernsehen in einer Ecke eingeblendet werden. „Als ständige Mahnmale. Es handelt sich schließlich – laut Bundesgerichtshof – um Früchte erheblicher Kriminalität.“
Marita Koch hat übrigens mit Sport fast nichts mehr am Hut. Sie lacht. „Nur wenn ich ein paar Pfunde zu viel drauf habe, gehe ich mal joggen“, sagt sie. Dann geht sie zurück in ihr Geschäft.
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