Vom Kreislauf des Lebens: Am Anfang und am Ende
Die Oma unserer Autorin liegt im Sterben, will aber die Geburt ihrer Urenkelin noch erleben. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
„Wie soll sie noch mal heißen? Elin Rose?“ Vor wenigen Jahren noch konnte sich meine 90-jährige Oma an alles genau erinnern: Wo welche Stadt auf den Europaseiten ihres alten Atlas liegt oder in welchem Jahr sie während der Flucht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wo war. Nun verwechselt sie wieder den Vornamen meines Freundes mit seinem Nachnamen, und auch sonst ist ihr viel entfallen, was ihr wichtig war. In den letzten zehn Jahren konnte sie mit Essen auf Rädern, einer Putzkraft und der Hilfe einer Freundin meines Vaters ganz gut allein leben, nun lassen ihre Kräfte nach. Seit ein paar Wochen meint sie, dass es mit ihr zu Ende gehe, sie aber nicht loslassen wolle, ehe meine Tochter geboren ist. Ich bin im siebten Monat schwanger. Ob Oma noch zwei Monate durchhält, ist fraglich.
Mit einem Ziehen im Arm beginnt es. Als ich sie bei einem Spaziergang anrufe, um anzukündigen, dass ich sie in einer Woche besuchen wolle, sagt sie, sie habe Schmerzen im linken Arm. „Bist du gefallen?“, frage ich. „Nein, nein“, sagt sie, „es ist auch nicht wild, nichts, wofür man zum Arzt gehen sollte.“ Und, nach einer Pause: „Die schicken mich am Ende nur ins Krankenhaus auf die Pa…, na …“ Sie sucht nach dem Wort. „Auf die Palliativstation?“, frage ich. „Warum sollten sie?“ „Was weiß ich“, sagt sie. „Ist ja auch egal. Ich gehe sowieso nicht zum Arzt.“
Die absurde Angst, zum Arzt zu gehen, ist mir bekannt. Das Erste, was ich vier Monate zuvor von meiner Schwangerschaft bemerke, ist ein starkes Ziehen im Unterleib. Ich halte es für eine Nebenwirkung des Antibiotikums, das ich nehme, vermeide jede unnötige Bewegung und hoffe, dass das Stechen nach Absetzen des Antibiotikums von allein verschwindet. Mit dem Aufsuchen eines Arztes warte ich, bis die Übelkeit so schlimm ist, dass ich mich nur noch gekrümmt aufrichten kann. Da ich keinen Hausarzt habe, gehe ich als Notfall in die nächstbeste Praxis.
Der Arzt ist so alt wie ich. Die Kombination von Symptomen hat er in seiner bisherigen Laufbahn noch nicht gehört: Ständige Müdigkeit und Übelkeit, Magenkrämpfe, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche. Nach Abtasten meines Bauches lässt er mich mit verbundenen Augen geradeaus laufen, um neurologische Gründe auszuschließen, und bestellt mich für die kommende Woche wieder, um weitere Tests zu machen. „Krebs in der Familie?“, fragt er, während ich mir den Mantel anziehe. Ich zucke zusammen. Er sieht mich ruhig an. „Keine Panik, wir müssen alles abfragen.“ Kurz hält er inne – und fragt dann: „Schwangerschaft ausgeschlossen?“
Als ich meine Oma einen Tag nach unserem Telefonat wieder anrufe, sagt sie, Stolz in der Stimme: „Jetzt musst du mich aber loben. Ich war beim Arzt. Er hat mir Massagen verschrieben.“ Dazu kommt es nicht mehr. Als die Freundin meines Vaters das nächste Mal nach ihr sieht, findet sie meine Oma halb angezogen in ihrem Sessel. Sie hat es seit über einem Tag nicht geschafft, die Fensterläden zu öffnen, sich anzuziehen oder zu waschen. Sie bedankt sich für alles, als wolle sie sich verabschieden. Ich buche meine Bahnfahrt auf den übernächsten Tag um und überrede meinen Vater mitzufahren.
Während der Bahnfahrt reden wir wenig. Ich denke immer wieder, dass meine Oma nicht sterben soll, bevor sie Elin gesehen hat. Bevor sie meine Tochter kennt.
Niemand nimmt so Anteil an meiner Schwangerschaft wie sie. Als ich ihr erzähle, dass ich schwanger bin, stockt sie, fragt: „Und nun?“ – und freut sich dann, hörbar, als ich sage, ich hätte mich entschieden, das Kind zu bekommen. „Das wirst du sicher nicht bereuen. Ich hatte keine Wahl und war trotzdem glücklich mit dem, was ich hatte. Ich könnte heutzutage nicht leben, da hat man so viele Möglichkeiten, dass man davon ja ganz wahnsinnig wird.“ Ich frage mich, ob sie ohne Kind wohl glücklicher gewesen wäre, stelle sie mir als Innenarchitektin in Rente vor. Allein, ohne Familie.
Als mein Vater und ich vor dem Haus meiner Oma stehen und klingeln, öffnet sie nicht. Wir kriegen Panik. Was, wenn wir zu spät sind? Während ich vor der Tür warte und klingele und klingele, geht mein Vater den Ersatzschlüssel holen. In der Wohnung die Erleichterung: Meine Oma liegt im Bett und schläft.
Am nächsten Morgen ist die Erleichterung vergessen. Meine Oma bringt die simpelsten Dinge durcheinander und glaubt Dinge, die sie sonst nie geglaubt hätte: Als sich mein Vater beim Essen auf seinen dicken Bauch klopft und sagt: „Mutti, den werde ich Erwin nennen“, fragt sie zögerlich: „Echt? Erwin?“
Wir vereinbaren mit den Leuten der Diakonie, die meiner Oma seit Jahren viermal die Woche Essen auf Rädern bringen, einen ambulanten Pflegedienst. Mein Vater will fürs Erste bei meiner Oma bleiben, sich kümmern, braucht aber Unterstützung. Die Zuständige bei der Diakonie rät, den Hausarzt zu rufen. Der kommt am Abend, untersucht sie kurz, zuckt mit den Achseln und sagt: „Sie hat wenig getrunken und ist geschwächt.“
Rührend schwache Oma, verstörend schwache Mutter
Er reduziert ihre Medikamente und verschreibt ihr einen Toilettenstuhl. Am nächsten Tag gehen mein Vater und ich ins nächstgelegene Sanitätshaus. Mein Vater schiebt den Toilettenstuhl durch den Stadtteil, in dem er groß geworden ist, ich halte Abstand. „Na warte“, sagt mein Vater. „Wenn jemand fragt, was das ist, sage ich, das ist ein Gebärstuhl für dich.“ Als ich meiner Oma davon erzähle, lacht sie so herzhaft, dass sie Bauchschmerzen bekommt: „Herrlich!“
Meiner Oma Windeln zu besorgen fällt meinem Vater schwerer. Ich kann das verstehen: Eine schwache Oma ist rührend, eine schwache Mutter eher verstörend. Immer wieder weint mein Vater. „Du musst für ihn da sein“, sagt Oma in einem klaren Moment. Dabei kann ich selbst nicht damit umgehen, sie so zu erleben. Schwach. Sie war immer mein Vorbild: eisern. Stolz. Tatkräftig. Nun muss ich ihr helfen, eine Windel anzulegen. „Windeln wirst du bald häufig anziehen“, sagt sie und lächelt, um Lockerheit bemüht. Ich kann es mir nicht vorstellen, ohne sie, und muss weinen. Sie ignoriert meine Tränen. Ich merke: Meine Trauer ist egoistisch. Meine Oma will, dass wir sie gehen lassen.
Wir legen ihr nahe, sich von den wichtigsten Menschen zu verabschieden. Nachdem sie das letzte Telefonat geführt hat, atmet sie tief aus und sagt: „So, das war’s! Jetzt will ich nur noch meine Ruhe: Klappe zu, Affe tot.“ Ihre Ruhe will sie zunehmend auch vor uns. Sie schläft den halben Tag, und wenn sie wach ist, sitzt sie die meiste Zeit teilnahmslos auf ihrem Sessel und döst. Immer öfter redet sie von mir in der dritten Person, obwohl ich doch da bin, ganz so, als sehe sie mich als eine Erinnerung in der Vergangenheit, während sie bereits in der Zukunft lebt. „Die Eva-Lena hat gesagt, manche Babys kommen früher und manche später.“ Oder: „Jetzt ist die neue Generation dran, sage ich der Eva-Lena immer. Jetzt ist die neue Generation dran.“
Die Vorstellung von meinem noch ungeborenen Baby, angesichts meiner sterbenden Oma, ist surreal. Das Einzige, was meine Tochter für mich real macht, ist ihr Name. Sobald ich weiß, dass es ein Mädchen wird, möchte ich es nach meiner Oma benennen. Als es ihr schlechter geht, stimmt mein Freund zu: Ihr Zweitname wird ihrer. Elin Eve Rose.
Dass wir uns so entscheiden, nimmt Oma nicht mehr zur Kenntnis. Sie nimmt überhaupt nicht mehr viel wahr. Nur als zwei Gutachter des Medizinischen Dienstes zu ihr in die Wohnung kommen, um ihren Zustand für die Festlegung der Pflegestufe zu beurteilen, ist sie klar und erzählt ihnen, dass sie eine Urenkelin erwarte, deren errechneter Geburtstermin der 30. Dezember sei. Die Gutachter stufen ihren Pflegegrad als gering ein: Pflegestufe 1.
An Feiern ist nicht mehr zu denken
Zwei Wochen später bricht sich meine Oma beim nächtlichen Versuch, von ihrem Bett aus auf den Toilettenstuhl zu gelangen, den Oberschenkelhals. Sie wird sofort operiert, liegt mehrere Tage auf der Intensivstation. Als sie das Krankenhaus verlassen muss, schlagen ihr der Arzt und der Soziale Dienst des Krankenhauses eine Reha vor. „Wozu?“, winkt sie ab. Sie will zum Sterben nach Hause.
Mein Vater aber kann ihre Betreuung auch mit Hilfe nicht mehr bewältigen, er kontaktiert zwei Altersheime und hat Glück. Das Heim, das nur 15 Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt liegt, nimmt sie auf. Am 3. Dezember, dem Tag, an dem sie das Krankenhaus verlassen muss, zieht sie ein.
Weil mein Gynäkologe über die Feiertage geschlossen hat, muss ich am 24. Dezember zur Kontrolluntersuchung ins Krankenhaus. Die Herztöne meiner Tochter sind nur schwach zu hören. „Gab es in den letzten Tagen irgendwelche Veränderungen?“, fragt die Hebamme. „Ist ihnen was aufgefallen?“
Ich denke an meine Oma und antworte, dass ich einfach sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen sei. Meine Antwort beunruhigt sie. Sie fragt, ob ich das Gefühl hätte, das Baby sei ruhiger geworden. Ich nicke verunsichert und überlege krampfhaft, wann ich das letzte Treten gespürt habe. Die Ärztin schenkt mir ein Glas Apfelsaft ein, um meinen Kreislauf anzukurbeln und um zu sehen, ob der Herzschlag des Babys dadurch stärker wird. Das wird er nicht.
Ich werde zum Ultraschall geschickt. Die Ärztin sieht das Ultraschallbild kritisch an und sagt, das Fruchtwasser habe massiv abgenommen. Wir müssten meine Tochter jetzt sehr gut im Auge behalten.
Sie bestellt mich für den nächsten Tag ein, an Feiern ist nicht mehr zu denken. Für niemanden – „Ich warte!“, sagt meine Oma am Telefon. „Ich warte ganz geduldig.“ Sie krächzt, revidiert: „Na ja, nein, eher ungeduldig.“ – „Du kannst loslassen, Oma“, sage ich. „Ich weiß“, sagt sie, und dann nichts mehr. Mein Vater nimmt ihr das Handy ab, schniefend: „Sag tschüss, Mutti!“ Oma haucht: „Tschüss, ja tschüss!“
Ausatmen auf A
Bei der Kontrolluntersuchung am nächsten Tag wird festgestellt, dass das Fruchtwasser doch ausreicht: Die drastische Einschätzung beruhte auf einem Computerfehler. Die Tage nach Weihnachten verfliegen, von Wehen keine Spur. Mittlerweile ist meine Tochter elf Tage über dem errechneten Geburtstermin. Während ich die innerhalb weniger Tage siebte Vorsorgeuntersuchung über mich ergehen lasse, um zu sehen, ob die Plazenta noch intakt genug ist, bekomme ich eine SMS von meinem Vater: „Oma im Krankenhaus: Nierenversagen. Habe um keine lebensverlängernden Maßnahmen gebeten.“
„Dann muss sie jetzt schnell kommen!“, denke ich und gehe am späten Abend noch mal raus. Draußen tanze und springe ich rum, zurück im Haus laufe ich die Treppe rauf und runter, ich trinke zwei Liter Ingwertee und einen Liter Minztee, alles wehenfördernde Maßnahmen. Um sechs Uhr setzen sie ein: zwanzig Sekunden stechender Schmerz, der sich nur mit einem Ausatmen auf A aushalten lässt. Sechs Minuten Pause. Plötzlich muss ich an diesen goldenen Engel denken, den Oma mir vor langer Zeit zu Weihnachten geschenkt hat: einen Kerzenlöscher aus Messing.
Jahrelang habe ich an den nicht gedacht. Und jetzt? Unruhig durchsuche ich Kommode und Schubladen, bis ich ihn in einer kleinen Schatulle mit Krimskrams finde. Ich nehme ihn in die linke Hand und lege mich auf die Couch.
Bald kann ich nicht mehr liegen. Das Ziehen und Stechen wird heftiger und häufiger. Ich stelle mir vor, wie ich meine Oma nach der Geburt anrufe, verliere schließlich den Gedanken an sie, kann bald an gar nichts mehr denken, nur atmen. Ich wecke meinen Freund, rufe das Krankenhaus an und bestelle ein Taxi. Als ich gerade aufgelegt habe, erhalte ich eine SMS: „Oma heute Morgen gestorben.“
„Hast du heute schon an sie gedacht?“
Ich bekomme einen Fieberschub. Im Krankenhaus werde ich an einen Tropf angeschlossen. Ich sehe mich von außen, bin in meinen fiebrigen Gedanken bei Oma und halte den Engel in der Hand. Die Hebamme herrscht mich an: „Die Geburt geht nicht ohne Sie! Sie müssen mental dabei sein und pressen!“ Weil der Kopf meiner Tochter so groß ist, muss die hinzugezogene Ärztin einen Schnitt machen. Als sie schneidet, reißt der Damm. Die Periduralanästhesie, die ich in letzter Sekunde gefordert habe, betäubt mein rechtes Bein – sonst nichts. Der Schmerz ist kaum auszuhalten.
Als ich Stunden später mit meiner Tochter im Krankenhausbett liege, durchströmt mich dennoch Glück. Der Tod, die Schmerzen – vergessen. Ich schaue auf den Engel, der noch immer in meiner linken, schweißnassen Hand ist, und denke, dass sie selbst im Sterben noch etwas für mich getan hat. Der Gedanke an sie hat mich vom Schmerz abgelenkt.
Meinem Vater geht es umgekehrt: Mit dem Tod seiner Mutter geht die Geburt seiner Enkeltochter an ihm vorbei. Als ich ihn nachts anrufe, sagt er nur: „Jetzt ist Omas Todestag ihr Geburtstag.“
Zwei Jahre später sieht er das nicht mehr so. Meine Tochter hat wieder Geburtstag, und mein Blick fällt auf ein Foto von Oma. „Hast du heute schon an sie gedacht?“, frage ich meinen Vater. Er schüttelt den Kopf. „Heute noch nicht“, sagt er und stürzt meiner Tochter hinterher, die gerade am Tischtuch zieht, um an die Kerzen zu kommen. Sie liebt Kerzen: Sobald sie alt genug ist, werde ich ihr den goldenen Messingengel schenken und die Geschichte dazu erzählen.
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