: Hier kommst du nicht raus
Räume Mit Mona El Gammals „Rhizomat“ beginnen die Berliner Festspiele ein Programm, das den immersiven Künsten gewidmet ist
von Katrin Bettina Müller
Schon die ersten Sätze, die man im „Institut für Methode“ (IFM) auf einer Tafel im Eingang lesen kann, sind gruselig. Informieren sie doch, wie mithilfe von Begrenzung der Fortpflanzung und Selektion unter den Altgewordenen die Bevölkerung gesund und in gut ernährbaren Grenzen gehalten wird. Menschen 1. Klasse dagegen können 120 Jahre alt werden und, wie im Wartesaal ein Werbefilm informiert, einen exklusiven Urlaub im Biosphären-Reservat buchen, mit einer „Tierwelt, wie sie einmal war“.
Weitere Clips bewerben Drogen für die angemessene Tagespersönlichkeit und eine mit dem Hirn verschmelzende Brille für die „Wirklichkeit plus, mit Zuckerguss“. Hier also ist man jetzt mit seinem Ticket für „Rhizomat“, einer theatralen Installation von Mona El Gammal, zu einer Standarduntersuchung angemeldet. Klar, dass das nichts Gutes bedeutet. Die Schreckensszenarien von Science Fiction sind schon in wenigen Minuten im IFM wachgerufen.
„Rhizomat“, das ist exklusives Theater: 11 Zuschauer am Tag können gerade mal jeweils allein durch die Räume des IFM und durch den Untergrund dieser Alptraumwelt wandern. Im Untergrund, in den Kellerräumen, erwartet den vorsichtig durch niedrige Lüftungsgitter von Raum zu Raum kletternden Besucher eine liebevolle, detailreiche und nostalgische Installation: Hier, suggerieren ihm Stimmen, die aus alten Apparaturen flüstern, ist der Raum derer, die aus der Kontrolle geflohen sind.
Die Wände sind über und über mit Zetteln, auf alten Schreibmaschinen getippt, beklebt. Zitate von Philosophen, von Forschungsberichten, aus Science-Fiction-Romanen, sind zu lesen und zu hören. Instrumente aus chemischen Laboren, Kräuter in Gläsern, rauschende Daten auf alten Computern und kein Mensch zu sehen: Das eigene Kopfkino lässt viele Filme erinnern von letzten Menschen auf einsamer Mission, von aufgegeben Stationen im Universum, von verlassenen, unheimlichen Orten. Zerschmolzene Telefone, rot blinkende Leuchten, Stimmen, die vor der Stromabschaltung warnen, Verhaltensregeln für den Fall einer Panepidemie – ob die Katastrophe schon stattgefunden hat oder noch vor einem liegt, ist unentschieden. Wenn man das leise Klicken der nächsten Tür hört, die das Weitergehen ermöglicht, hat man gerade mal eine Ecke der ausstaffierten Räume erfasst.
Für Mona El Gammal, die für Konzept, Regie und Szenografie des „Rhizomat“ verantwortlich ist, haben die Berliner Festspiele lange nach einer leerstehende Immobilie gesucht. Wo der Ort liegt und was da früher war, sollen die Journalisten bitte nicht verraten. Dabei sehen sicher viele Keller von technischen Instituten, die ihren Computerschrott dort entsorgt haben, so aus. Mit 28 Mitarbeitern hat Mona El Gammal dort das Bühnenbild für ihre Geschichte ausgebreitet und die visuellen und sprachlichen Stichworte für den Kampf zwischen der kontrollierten Oberwelt und den Freaks und Nerds im Untergrund verteilt.
Für die Festspiele beginnt mit „Rhizomat“ ein Programm, das sie der Immersion widmen: den Künsten, die mit Räumen und Installationen erzählen, in die der Besucher eintreten kann. Solche Parcoure tauchten in der Kunst- und Theaterwelt immer mal wieder auf. Dass solche ästhetischen Strategien neu wären, behauptet Thomas Oberender, der als Intendant der Berliner Festspiele die Immersion-Reihe geplant hat, auch nicht. Aber sie haben in seinen Augen eine größere Bedeutung gewonnen.
Denn die immersiven Welten, die bildende Künstler, Theaterleute und Musiker entwerfen, lassen sich auf die Folie von Computerspielen und anderen digitalen Welten beziehen. Sie sind, so meint Oberender, analoge Versionen vom „world-building“ digitaler Designer. Das wird von einer Industrie vorangetrieben, die am liebsten möchte, dass man ihre Erlebniswelten nicht mehr verlässt.
Die immersiven Kunstformen, das ist kein Trend, den die Festspiele jetzt behaupten, sondern eher ein Befund. Immer mehr Künstler interessiert das, meint Oberender zu beobachten. Die Immersion-Reihe der Festspiele will Gelegenheit bieten zu schauen, was das mit unserer Zeit zu tun hat. Denn geschlossene Systeme, die kein Außen kennen wollen, sind nicht nur eine digitale Fantasie, sondern tauchen auch als Fantasma in der Politik auf, als ideologische Hirngespinste oder als Firmenimperium.
All das findet man wieder bei Mona El Gammal, wenn auch in einer zarten, eher hingetupften Form. Der „Rhizomat“ stößt ja nur an, was man an utopischen und dystopischen Bildern schon gesehen hat und mitbringt. Schade, dass man ihn nur allein durchqueren kann. Denn zu zweit könnte man sich ständig all die Filme erzählen, die einem auf Schritt und Tritt einfallen.
Der Rhizomat ist noch bis zum 4. Dezember zu besuchen. Tickets und Informationen www.berlinerfestspiele.de
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