Kinothriller „Girl on the Train“: Eine unzuverlässige Erzählerin
Die Verfilmung des Romans „Girl on the Train“, eines Falls mit vielen blinden Flecken, setzt vor allem auf Großaufnahmen und Atmosphäre.
Das Leben der anderen zu beobachten und sich darin hineinzuversetzen, das ist nicht nur die Grundhaltung für Perverse oder NSA-Mitarbeiter, es ist auch die des Lesers und Kinozuschauers. Wenn man also Rachel (Emily Blunt) zu Beginn von „Girl on the Train“ in besagtem Zug sitzen sieht, so stellt man als Zuschauer über sie ganz ähnliche Vermutungen an, wie sie selbst es mit diesem Pärchen tut, vor dessen Haus ihr Vorortzug oft stehen bleibt.
Wer ist diese Frau, die da mit alkoholseligem Gesicht aus dem Zugfenster in das Häuschen von Megan (Hailey Bennett) und Scott (Luke Evans) starrt? Ihre „Schwärmerei“ für das schöne Paar, zu der sie sich aus dem Off bekennt, weist sie als Sehnsüchtige aus, als eine, die etwas verloren hat.
Rachel ist „verliebt“ in den Anblick von Megan und Scott und stellt sie sich als glückliches, harmonisches Paar vor, weil sie selbst allein ist. Ihr Exmann Tom (Justin Theroux), so erfährt man bald, hat sie für eine andere, für Anna (Rebecca Ferguson) verlassen.
Der Versuch, den eigenen Schmerz durchs Fantasieren über fremdes Glück zu lindern, erscheint so verständlich, dass man dem Film die Gezwungenheit nachsieht, wenn Scott und Megan sich ausgerechnet in dem Moment auf dem Balkon umarmen, in dem Rachel sie vom Zug aus sehen kann.
„Girl on the Train“. Regie:Tate Taylor. Mit Emily Blunt, Rebecca Ferguson u. a., USA 2016, 113 Min.
Megans Betrug
Und erst recht die, als Rachel just das eine Mal zur Stelle ist, als ebenda Megan sich in die Arme eines fremden Mannes schmiegt. Und man merkt als Zuschauer, wie sehr Emily Blunt als Rachel bereits in ihre Geschichte hineingezogen und die Fantasie beflügelt hat, wenn man ihre Wut auf Megan und ihren „Betrug“ besser versteht als deren Handeln.
Erst als Megan als vermisst gemeldet wird und Rachel bei sich zu Hause aus einem Vollrausch mit blessiertem Kopf und Körper erwacht, wird das Misstrauen gegenüber der „unzuverlässigen“ Erzählerin geweckt, in die wir uns hineinversetzen. Hat sie vielleicht wirklich etwas mit Megans Verschwinden zu tun?
Der Reiz des gleichnamigen Bestsellerromans von Paula Hawkins hängt unmittelbar mit der Unzuverlässigkeit seiner Erzählerinnen zusammen, was wiederum nichts anderes heißt, als dass Hawkins’ kleiner Krimi seine Spannung weniger aus den überraschenden Wendungen seiner Geschichte als vielmehr aus seiner raffinierten Konstruktion bezieht.
Gleich dreimal variiert die britische Autorin das Spiel mit Wissen, Unwissen und dem Wissen um das Unwissen: Da ist Rachel, deren Perspektive die Erzählung dominiert, obwohl sie wegen ihres Alkoholismus und ihren Aussetzern die meisten blinden Flecken aufweist. Doch Rachel weiß um sie und versucht sie aufzufüllen.
Unwissen dem Wissen vorziehen
Megan dagegen, deren Stimme nur am Rande vorkommt, kennt ihre eigenen „Unknowns“ gar nicht. Und Anna wiederum, in ihrem vermeintlichen häuslichen Glück an der Seite von Rachels Ex, zieht mehr und mehr willentlich das Unwissen dem Wissen vor, um ihre „Kleinfamilienblase“ zu erhalten.
Der Schauspieler Tate Taylor, der als Regisseur des seifigen, aber Oscar-nominierten Südstaatendramas „The Help“ Berühmtheit erlangte (und damit immerhin der großartigen Octavia Spencer zu einem Nebendarsteller-Oscar verhalf), bemüht sich in seiner Verfilmung zwar darum, die literarische Konstruktion beizubehalten.
Aber er versäumt es darüber, die eine filmische Stärke der Vorlage auszunutzen: dass die Handlung von „Girl on the Train“ nämlich mehr von einer topografischen Begebenheit als von einem Ereignis ausgeht.
Rachels tägliche Zugfahrt aus dem Vorort in die Stadt führt sie entlang der Hintergärten einer Straße, in der nicht nur ihr „Traumpaar“ Megan und Scott wohnt, sondern in der auch das Haus steht, in dem Rachel mit Tom zusammenlebte. Nun ist es das Haus von Tom und Anna und deren Neugeborenem.
Auf dem Stadtplan verort
Die blinden Flecken der Geschichte lassen sich gewissermaßen auf einem Stadtplan verorten. Von der Art der Anlage her – kleine Häuschen mit Hintergärten entlang einer Bahnlinie – erscheint dieser darüber hinaus als typisch englisch.
Was in Hawkins’ Romanvorlage den realistischen Hintergrund liefert, London mit seinen Vororten und seinem teils veralteten Schienennetz, erhält durch die Verlagerung des Films nach New York und Umgebung jedoch einen Touch ins Unwirkliche.
Und statt sich mit Geografie abzugeben, setzt Taylors Film auf die Entrücktheit von Großaufnahmen. Immer wieder hält die Kamera mit geradezu dermatologischem Nachdruck auf Rachels von Trunkenheit stumpf gewordenes Gesicht, in dem nach und nach erst der Schmerz über das erkennbar wird, was sie durchlitten hat.
Wie das letztjährige „Gone Girl“ enttäuscht auch das verfilmte „Girl on the Train“ seine vormals begeisterten Leser. In beiden Fällen jedoch vergrößert die Verfilmung vielleicht auch nur die in den Romanen bereits angelegten Schwächen. Und auch wenn die Verfilmung der postfeministischen Diskurslust nicht genug Stoff liefert, so besitzt „Girl on the Train“ doch ausreichend Atmosphäre und Spannung für ein angenehmes Kinoerlebnis.
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