: Visionär zwischen den Welten
Ibrahim Abouleish Den Koran und die Lehre Rudolf Steiners verbinden
„Mitten in Wüste und Sand sehe ich mich aus einem Brunnen Wasser schöpfen. Achtsam pflanze ich Bäume, Kräuter und Blumen und tränke ihre Wurzeln. Das kühle Brunnenwasser lockt Tiere und Menschen, Bäume spenden Schatten, das Land wird grün, Blumen verströmen ihren Duft. Und die Menschen pflegen und achten alles Geschaffene.“
So beschreibt Ibrahim Abouleish seine Vision, die der Sekem-Initiative zugrunde liegt und die, „von der Ganzheitlichkeit sowohl der Anthroposophie wie auch des Islams beeinflusst ist“. Für den 79-jährigen Muslim schließen sich beide Welten nicht aus: „Die Anthroposophie ist eine Erkenntnismethode, die uns hilft, die Wahrheiten in den Religionen und in der Welt zu erkennen.“ So habe sie ihm etwa geholfen, die muslimischen Gebetszeiten zu verstehen, die sich nach dem Sonnenstand richten und Parallelen aufweisen zu den für biodynamischen Landbau wichtigen pflanzlichen Zyklen.
Auf die Lehre Rudolf Steiners stieß Ibrahim Abouleish während seines Studiums in Graz. 20 Jahre verbrachte er in Europa, befasste sich mit westlicher Musik, Poesie und Philosophie. Gleichzeitig fühlte er sich durch seine Kindheit aber tief verwurzelt in der orientalischen Kultur. Daraus entstand etwas ganz Neues, eine Synthese, die er mitnahm in die Wüste.
1977 kehrte Abouleish, inzwischen promovierter Chemiker, zurück nach Ägypten, getrieben vom Wunsch, in seiner Heimat gegen Armut, Bildungsmangel und Umweltzerstörung vorzugehen. Rund 4.000 Menschen, die Mehrheit sind Muslime, aber auch Christen, arbeiten und lernen heute gemeinsam in der Sekem-Oase, inspiriert von den Theorien Rudolf Steiners. Für seine gläubigen Landsleute versucht er stets, Verbindungen zum Islam herzustellen. Und davon gibt es viele: Die Jahrsiebte etwa, nach der der Mensch in den ersten sieben Jahren spielen, zwischen sieben und vierzehn Jahren lernen soll und anschließend erwachsen ist, ist sowohl im Islam wie auch in der Waldorfpädagogik von Bedeutung. Auch eine kleine Moschee gibt es auf dem Gelände.
Der anthroposophische Blick auf den Islam, sagt Abouleish, ermögliche ein ganz neues Verständnis des modernen Islams. Die gut vernetzte, westlich orientierte Organisation mitten in der Wüste wird auch als Gegenpol zum erstarkenden Fundamentalismus im Land gesehen. Für den Brückenschlag zwischen den Kulturen wurde Sekem 2003 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Im kommenden Jahr feiert die Initiative ihr 40-jähriges Bestehen. Katja-Barbara Heine
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