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Das Protokoll einer Flucht

ASYL In ganz Deutschland protestieren Flüchtlinge. Ein sudanesischer Vater erzählt

Das Flüchtlingscamp

■ Die Menschen: 70 Flüchtlinge leben hier – unter anderem aus Uganda, Niger, Benin, Sri Lanka, Sudan, Kolumbien, Iran, Afghanistan und Marokko.

■ Die Zelte: Es gibt fünf Schlafzelte mit Standheizungen, in denen je zwanzig Menschen schlafen können, eines für medizinische Versorgung, für Kleidung und ein Kinderzelt. In einem wird diskutiert, ein anderes dient als Küche, Toiletten sind im Bauwagen. Bald soll es einen Computerraum geben.

■ Die Organisation: Zu festgelegten Zeiten können sich die Flüchtlinge bei UnterstützerInnen waschen. Auf dem Gelände gibt es eine offene Feuerstelle. Ein Zelt dient als Infopoint – dort können auch Außenstehende sehen, welche Sachspenden oder Lebensmittel benötigt werden. Es kocht der, der kochen kann, die anderen helfen bei der Vorbereitung oder beim Abwasch. In der Nacht bewachen jeweils zwei Menschen das Camp in Vierstundenschichten.

Mehr Informationen unter www.refugeetentaction.net

PROTOKOLL JASMIN KALARICKAL

Mein Name ist Yassir Abdullah Ahmad, ich bin 38 Jahre alt. Ich komme aus dem Nordsudan, aus Khartum, der Stadt, in der der Weiße und der Blaue Nil zusammenfließen. Ich bin seit vier Jahren mit meiner Familie auf der Flucht.

Heimat: Khartum, Nordsudan Ich hatte von 1997 bis zum Jahr 2000 offiziell als Soldat in der Armee gedient. Nach dieser Zeit kehrte ich in ein ziviles Leben zurück. Ich heiratete meine Frau Mawda Abdullah Ahmad, wir gründeten eine Familie, ich eröffnete ein kleines Geschäft. Im Jahr 2007 erhielt ich einen Brief von der sudanesischen Regierung. Ich sollte gegen die Rebellen in Darfur kämpfen. Ich wollte nicht gegen Sudanesen kämpfen, nicht gegen mein Volk, nicht gegen mein Blut. Ich weiß nicht, was mich diese Entscheidung gekostet hätte: vielleicht Gefängnis, Folter, Tod. Meine Frau und ich entscheiden immer gemeinsam. Wir entschieden zu fliehen.

Erste Station: Libyen an der Grenze zu Tunesien

Wir packten unser Leben in Koffer. Wir fuhren mit dem Auto 15 Tage lang über inoffizielle Wege durch die Wüste bis nach Libyen, bis an die Grenze von Tunesien. Ich verdiente mein Geld als Händler. 2011 spitzte sich aber die Lage mit Gaddafi zu. Wir gerieten ständig in die Schusslinie der Nato-Truppen, der Revolutionsarmee oder der Gaddafi-Truppen. Wir waren mittendrin. Yassir Abdullah Ahmads Stirn hat wellenförmige Falten – immer wieder schaut er zu seiner Frau Mawda, die mit ihrem einjährigen Sohn Mohammed auf einer der Matratzen im Zelt sitzt. Die Seiten des Zelts sind gegen die Kälte mit Isomatten behängt.

Zweite Station: Tripolis, Libyen

Mit weißen Fahnen flohen wir mit dem Auto in die Hafenstadt Tripolis. An der Küste verkauften wir unser Auto. Rund 5.000 Dollar zahlten wir für eine Überfahrt nach Lampedusa. Flüchtlinge nach Europa zu bringen ist ein profitables Geschäft. Wir hatten Glück: mit einem erfahrenen Seemann, einem guten Boot, einem ruhigen Meer. Wir waren 450 Menschen in einem Boot, wir saßen dicht an dicht. Meine Frau war in dieser Zeit schwanger mit Mohammed. Niemand ist in diesem Boot gestorben.

Dritte Station: Lampedusa, Italien

Die Überfahrt im Juli 2011 dauerte 24 Stunden. Wir kamen sofort in eine Notunterkunft, unser Gepäck haben wir nie wieder gesehen. Wir stellten einen Asylantrag. Dort wurden uns die Fingerabdrücke abgenommen.

Vierte Station: Porretta Terme, Provinz Bologna, Italien

Nach einem Tag kamen wir in eine kleine und abgeschiedene Gemeinde in der Provinz Bologna. Unser Zimmer dort war unser Leben: vier mal vier Quadratmeter für meine schwangere Frau, unsere Kinder Monty und Miaad und für mich. Jeden Tag gab es das gleiche Essen. Am 22. Oktober 2011 wurde Mohammed geboren. Wir hatten kein Kinderbett, es war kalt und er wurde krank. Ich beschwerte mich mehrmals – ohne Erfolg. Wir hielten diese Situation fünf Monate aus. Dann ging ich aus Protest sieben Tage lang in den Hungerstreik. Die verantwortlichen Behörden reagierten endlich, wir wurden verlegt.

Seine Tochter Miaad kommt in das Zelt. Er nimmt sie auf den Schoß und streicht ihr über den Kopf.

Fünfte Station: Sasso Marconi, Provinz Bologna, Italien

Wir kamen in ein Haus. Es war eine bessere Unterkunft als davor. Eines Tages standen italienische Beamte vor der Tür. Sie trennten mich von meiner Frau und meinen Kindern. Denn ich hätte unverantwortlich gehandelt, weil ich meiner damals noch schwangeren Frau und meinen Kinder die Bootsfahrt nach Lampedusa zugemutet habe.

Sechste Station: irgendwo in der Provinz Bologna

Ich kam in ein isoliertes Camp für afrikanische Männer. Meine Frau und meine Kinder kamen in eine kirchliche Unterkunft. Ich durfte sie nur zweimal im Monat besuchen, 90 Minuten lang, keine Telefongespräche. Ich schmuggelte ein Handy bei Mawda ein, wir vereinbarten einen Treffpunkt. Nach drei Monaten und zwanzig Tagen haben wir dieses „Gefängnis“ verlassen.

Fünf Uhr nachmittags, es wird dunkel. Er zündet eine rote Kerze an. Ein Freund bringt Pfefferminztee mit Zucker und Gebäck.

Siebte Station: Bramsche-Hesepe, Deutschland

Über Frankreich, Hamburg und Braunschweig kamen wir nach Bramsche. Das größte Abschiebelager Deutschlands wird unter Flüchtlingen auch „Guantánamo II“ genannt. Es ist bekannt für seine Brutalität. Es ist ein sehr isoliertes Lager rund zwanzig Kilometer von Osnabrück entfernt. Es ist eng, es gibt keine ausreichende medizinische Versorgung, viele nehmen Drogen, es gibt viel Gewalt. Kein guter Ort für eine Familie.

Achte Station: Berlin

Anfang Oktober 2012 schloss ich mich den landesweiten Flüchtlingsprotesten gegen die Residenzpflicht an, wir fuhren nach Berlin. In Deutschland steht das Recht auf Selbstbestimmung in der Verfassung. Das möchte ich für uns einfordern: Selbstbestimmung. Die Solidarität der anderen Flüchtlinge gibt mir Kraft. Das Camp am Oranienplatz mitten in Kreuzberg ist unsere große Familie. Hier leben rund 70 Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Religionen, Nationalitäten. Wir alle haben Erinnerungen, die uns begleiten. Manche sind gemeinsam 600 Kilometer bei dem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin gegangen. Man kann sich vorstellen, wie das zusammenschweißt. Wir teilen uns alles, auch die Kälte. Hier organisieren wir uns, hier essen wir, hier spielen die Kinder. Meist schlafen wir bei Leuten zu Hause, die uns unterstützen. Manchmal auch im Camp.

Endstation?

Unsere Zukunft ist ungewiss, wir hoffen, dass wir irgendwann ein normales Leben führen können. Wenn wir nicht in Deutschland bleiben können, würde meine Frau mit den Kindern in den Sudan zurückkehren, denn Italien wäre traumatisch für sie. Ich kann natürlich nicht wieder in den Sudan, ich müsste wieder nach Italien. Wir wären getrennt. Es ist keine schöne Aussicht. Aber die einzige, die wir haben.

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