Essay über rassistischen Hass: Die andere Seite von Deutschland
Unsere Autorin erzählt, wie sie einmal zu einer Lesung ins sächsische Döbeln fuhr. Und danach schnell wieder zurück.
Ich sitze im Zug. Ich fahre nach Döbeln. Döbeln liegt in Sachsen, und das ist heute erwähnenswert, weil: In Sachsen liegt auch Dresden. In Dresden wurden diese Woche zwei Bombenanschläge verübt, einer auf eine Moschee und einer auf ein internationales Kongresszentrum. Die Polizei geht von einem rechtsextremistischen Hintergrund aus, und bei aller Fantasie, die einem zur Verfügung steht, fällt es einem schwer, sich einen anderen Hintergrund vorzustellen, als den: den Hass auf Fremde. Diesen allgemeinen, und deshalb so abstoßend hässlichen Hass: den auf alles, was anders ist, und auch auf jeden. Und den Hass, den speziellen: den auf Muslime.
Der Hass, der auf den ersten Blick im Vergleich zum Ersteren differenzierter ist, ist bei genauem Hinsehen das absolute Gegenteil davon: Flüchtlinge, Osama bin Laden, IS, kopftuchtragende Frauen, Köln- wie 11.-September-Attentäter, alles dasselbe. Man spricht im Allgemeinen vom blinden Hass, aber der Hass ist vor allen Dingen taub: Er kann keine Zwischentöne hören. Eigentlich hört er nur sich selbst. Schreien.
Ins Land von Bach, Karl May, Michael Ballack und Pegida
Ich sitze im Zug. Ich fahre nach Döbeln. Döbeln liegt in Sachsen. In Sachsen wurden Johann Sebastian Bach, Karl May, Michael Ballack und Pegida geboren. In Dresden gingen jeden Montag über 20.000 Menschen gegen „die Islamisierung des Abendlandes“, die „Scharia in Europa“, Ausländer im Allgemeinen und Muslime im Besonderen demonstrieren, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen, die da skandierten und protestierten, je einem Migranten jemals begegnet waren, ist gering: Der Ausländeranteil in Sachsen liegt bei 2,8 Prozent.
Ich fahre nach Döbeln, wo ich aus meinem Buch „Sie können aber gut Deutsch!“ einen Beitrag zu unserer un- wie wehleidigen Integrationsdebatte lesen soll. Döbeln liegt in Sachsen, Sachsen liegt in Deutschland, und ich fühle mich auf dem Weg dorthin nicht wohl. Das ist ein ziemlich neues und ein ziemlich unangenehmes Gefühl.
Es ist ein neues Gefühl in neuen Zeiten. In diesen Zeiten verwischt sich das Leben: Fakten und gefühlte Wahrheiten, herausgekramte Begriffe und neue Wortfindungen, neue Parteien und vergessen gedachte Ideologien. In diesen Zeiten tut sich ein Graben auf – aber das wäre bereits ein Euphemismus; der Graben hat sich längst aufgetan und ist kaum zu überbrücken – zwischen denjenigen, die wollen, und denen, die nicht wollen, und zwar auf gar keinen Fall.
Man schreit an beiden Seiten des Grabens, aber man macht sich noch nicht einmal mehr die Mühe, einander anzuschreien, man schreit nur noch so vor sich hin. Für sich und andere aus den eigenen Reihen. Man schreit in Parolen, und die Parolen auf der einen Seite erinnern an eine andere, dunkle Zeit. Man hat vergessen, was das ist: miteinander zu reden.
Eins, zwei, drei, vier, FÜNF – jeder fünfte wählt AfD
Eine Partei, die offene Diskriminierungs- und Exklusionsforderungen stellt und deren Sprecherin dafür kämpft, den Begriff „völkisch“ wieder positiv zu besetzen, ist in acht Landesparlamenten vertreten. Das kann man nicht oft genug wiederholen, und wiederholen muss man es langsam, damit das Gehirn es auch versteht: In manchen Regionen dieses Landes – in Sachsen zum Beispiel – wählt jeder Fünfte die AfD. Eins, zwei, drei, vier, FÜNF – jeder Fünfte.
Die Menschen in diesem Land driften auseinander, und diejenigen, die nach rechts driften, tun es auch in Richtung gefühlte Wahrheit, das ist das eigentlich Gefährliche daran. In Regionen mit dem geringsten Migrantenanteil ist wiederum der Anteil der Menschen, die der AfD/den Identitären/anderen rechtsextremen Gruppierungen angehören, am höchsten, und das Faktenwissen gering: Wie viele unter ihnen wissen wohl (oder wollen wissen), dass die größte Einwanderungsgruppe in Deutschland immer noch die Polen sind (und nicht Muslime)? Oder dass Deutschland noch nicht einmal zu den Top-Fünf-Einwanderungsländern der Welt gehört?
Am lautesten schreien die, die am wenigsten wissen
In diesen neuen Zeiten schreien die am lautesten, die am wenigsten wissen, sie brüllen ihre Ängste heraus und eine Zukunft herbei, die schon einmal Deutschlands Vergangenheit hätte gewesen sein können.
Ich sitze im Zug nach Döbeln. Mir gegenüber sitzt ein Mann mit einer verspiegelten Sonnenbrille, einer schwarzen Lederaktentasche und einer Mineralwasserflasche vor sich, und im Zusammenhang mit diesem Text muss ich sagen: Asiatischer Herkunft ist dieser Mann.
Und da ich schon dabei bin, die Menschen um mich herum zuzuordnen, und da ich diesen Text jetzt schreibe, so muss ich auch die Familie erwähnen, der ich gerade beim Umsteigen mit dem Kinderwagen half: Junge Eltern, zwei kleine Kinder, sie sprachen Arabisch, die Kinder waren außerordentlich niedlich, und das ist nicht positiv rassistisch gemeint, sie hatten einfach ein süßes Lächeln.
Muss man die Menschen vor dem Osten warnen?
Diese Menschen fahren alle in den Osten, und ich weiß nicht, ob ich sie warnen soll: Sie sind dort nicht willkommen und nicht gewollt. Ich bin dort auch nicht gewollt, das hat mit meiner Muttersprache zu tun, die das Russische ist, und damit, dass ich immer noch auf Russisch zähle, und damit, dass ich niemals aufhören will, auf Russisch zu zählen.
Und ich wünschte, diese Ablehnung hätte weniger mit meiner Herkunft zu tun und mehr damit, dass ich auf Deutsch und in klaren, wohl formulierten, akzentfreien Sätzen sage, was mir an Deutschland nicht gefällt, zum Beispiel diese barbarische, gedankenfreie Art, die um sich greift wie eine Mundgeruch verursachende Krankheit: fremd mit gefährlich zu verwechseln und anders mit böse.
Unsere Bundeskanzlerin hat „Wir schaffen das“ gesagt, das ist jetzt über ein Jahr her, und noch immer hängt sie an diesem Satz fest. Daran wird sie, daran wird die Flüchtlingspolitik, die nicht einmal mehr Einwanderungspolitik genannt wird, daran wird die Koalitionsarbeit, der Parteizusammenhalt, die Abgrenzung zu anderen Programmen, daran wird buchstäblich alles gemessen, es gibt nur zwei Antworten darauf, die Zustimmung und den Widerspruch, ja, tun wir, oder nein, wir schaffen das nicht.
Fragen hingegen gibt es nicht, während sie das Einzige sind, worum sich alles drehen sollte: Man muss nach dem Wir fragen. Man muss das Wir definieren und die Aufgaben teilen. Was machen Freiwillige, was machen Institutionen, was machen Kommunen, was machen Schulen, was machen Neunankömmlinge, was macht das Geld, was macht die Politik, konkret, und auch um all das zu ermöglichen, was die anderen machen?
Was heißt eigentlich „schaffen“?
Man muss nach dem „schaffen“ fragen. Was bedeutet schaffen, was ist das genaue Ziel? Integration, die erfolgreiche? Wie und auch wer definiert erfolgreiche Integration, und was ist mit denjenigen, die diese infrage stellen, wie zum Beispiel der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, der vergangene Woche von sich gab: „Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre hier – als Wirtschaftsflüchtling. Den kriegen wir nie wieder los.“
Ist dieses Verb, „schaffen“ als Prozess oder Endprodukt zu verstehen, als ein Zustand, in dem wir uns befinden, im Sinne von: Wir sind gerade dabei, es zu schaffen, oder als ein Ergebnis, das anzusteuern ist, da müssen wir hin? Und wie definiert man dieses Schaffen? Wenn alle Senegalesen beispielsweise Fußball spielen und ministrieren, haben wir es dann geschafft?
Auch das Akkusativ-Objekt in dieser aktivistischen, auch polemischen, tausend Mal durchgekauten und wieder ausgespuckten Aussage muss hinterfragt werden: Was ist denn das „das“, das es zu schaffen gilt? Sind damit die Flüchtlingsströme aus dem zu Tode bekriegten Syrien gemeint? Die Integrationsfrage als Ganzes, die seit Jahrzehnten ignorierte, zu Wahlkampagnen und Buchverkaufszwecken benutzte, die unbeantwortete?
Solange wir diese Fragen nicht stellen, nicht ausformulieren, nicht diskutieren, nicht erstreiten, geschweige denn, dass wir Antworten darauf finden, solange der viel zitierte Graben täglich evidenter wird, solange die Grenzen zwischen dem gestern noch Unsagbaren und dem heute Salonfähigen immer weiter verwischen, Ängste als Fakten und rassistische Aussagen als Sorgen verkauft werden, solange überfordern wir jeden, der sich als Neuankömmling an diesem Land, an dieser Gesellschaft versucht. Weil wir an der eigenen Überforderung scheitern und darüber hinweg schweigen.
Wir fordern von denjenigen, die aus diktatorischen Systemen kommen, dass sie Demokratie und Meinungsfreiheit und die unantastbare Menschenwürde lernen, während wir dabei zusehen, wie einer der großen Slogans der Demokratie („Wir sind das Volk“) von verfassungsfeindlichen Rechtsradikalen missbraucht wird, Meinungsfreiheit in kulturrassistischen Parolen endet, und Menschenwürde täglich mit den Füßen getreten wird, wenn die Zahl rechtsextremistisch motivierter Taten sich in einem Jahr verdoppelt und Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte seit Langem zur sprichwörtlichen Tagesordnung gehören.
Der Rechtsruck ist hier kein Ruck, sondern eher ein Zustand
Ich sitze im Zug nach Döbeln. Dann komme ich dort an. In Döbeln ist der Rechtsruck, der hier vielleicht kein Ruck ist, sondern ein Zustand, sofort zu sehen: Plakate und Flyer überall. Da ist von der AfD bis zur NPD alles vertreten, und dazwischen sind Sätze an die Wände gepinselt, die ich noch nicht einmal abschreiben möchte.
Der Verein, der zur Lesung geladen, hat, heißt „Jugendbüro Diversity“, und die, die eingeladen haben, und die, die zur Lesung kommen, sehen so aus, wie man sie sich vorstellt: Rastas, Chucks, Mädels mit kurz rasierten und Jungs mit langen Haaren, sie trinken Bier und Mate-Tee, und sie haben vor den Rechten, die da draußen stehen, keine Angst. Sie haben noch diesen Spaß, diese zu bekämpfen, weil Bekämpfen macht in manchen Lebensphasen an sich auch Spaß.
Auf einer Couch, die in dem Kulturzentrum im Flur steht, sitzen vier Geflüchtete und starren auf ihre Handys. Sie lachen miteinander, und mir lächeln sie zu. Hier fühlen sie sich sicher, erklärt man mir, hier kommen sie hin, weil sie draußen angepöbelt werden. Nach der Lesung setze ich mich noch am selben Abend in den Zug nach Berlin, weil ich mich in Döbeln nicht wohl fühle, und ich weiß nicht, ob das Unwohlsein einer provinziellen Trostlosigkeit, unbestimmten Ängsten, aufgemalten Parolen oder einer Tatsächlichkeit geschuldet ist.
Es ist, als führe ich in ein anderes Deutschland. Auf die andere Seite irgendwie.
Lena Gorelik sitzt beim 100. taz.salon am 2. Oktober um 17.30 auf dem Podium „Ihr macht es uns schwer – von der Schwierigkeit deutsch zu werden“, zusammen mit Zafer Şenocak und Rasha Khayat
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