Loblied auf das EU-Parlament: Wir sind's
Die EU hat ein Demokratiedefizit, ist umständlich und bürokratisch? Schon. Aber im Parlament sieht man, was die Europäische Union kann.
Es beherbergt Europas kühnste Vision: In einem Raum sitzen 750 Männer und Frauen aus 28 Ländern, die sich in 24 Sprachen zu verständigen versuchen. Auf den ersten Blick scheint das ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ist es nicht eigentlich die mutigste und schönste aller europäischen Ideen?
Das fragt man sich, wenn man auf der Besuchertribüne des Straßburger Plenarsaals sitzt und via Kopfhörer eine kleine Reise quer durch die 24 Amtssprachen unternimmt. Kanal drei, bonjour la France! Dann ein kleiner Abstecher nach Estland, Nummer 13. Bis man herausgefunden hat, dass Ungarisch „Magyar“ heißt und die Nummer 16 hat, hat man schon versehentlich mit dem Ellenbogen Kanal null eingestellt: Originalton. Ein Italiener spricht auf Englisch über das Schicksal der Polen, das uns alle sehr betroffen machen solle.
Man nickt. Überlegt kurz, in welcher Sprache man ihm da gerade eigentlich gedanklich zugestimmt hat. Und in diesem Moment packt sie zu, die Gänsehaut.
Wirtschaftskrise, Demokratiedefizit, Nationalismus. Europa steht am Scheideweg. Aber gibt es noch Visionen? Die Hoffnungen von Drehbuchteams, EU-Abgeordneten und PR-Agenten lesen Sie in einer Sonderausgabe der taz.am Wochenende vom 24./25. September. Außerdem: Unterschiedlicher geht es kaum. Wie Hamburg und München Wohnraum für Geflüchtete schaffen. Und: Internationales Poesie-Festival in Ostchina. Offene Gesellschaft, oder was? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die EU hat ein Problem
Warum nur scheinen immer weniger an Europa zu glauben? Die Beteiligung an der Wahl des Parlaments ist seit der Gründung 1979 kontinuierlich gesunken, zuletzt betrug sie nur noch 42,6 Prozent. Das größte Problem der Institution sind die Zweifel an seiner Funktionalität. Trotz seiner Stärkung durch den Vertrag von Lissabon 2009 hat das Europaparlament nach wie vor kein Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen. Nicht zuletzt wegen Hinterzimmerlösungen wie denen der Finanz- und Regierungschefs in der Eurokrise gilt es vielen als niedliches Abnickparlament, letztlich chancenlos gegenüber Kommission und Mitgliedstaaten.
Und der Standort, Straßburg, die Stadt, die auf ihre Müllsäcke stolz „eurométropole“ druckt, macht die Sache nicht einfacher. Warum tagt ein Parlament an zwei Orten? Groß ist die Empörung über den Wanderzirkus, den man allmonatlich für ein paar Tage von Brüssel hierher veranstaltet. Manche würden das gerne ändern, doch hier zeigt sich das fieseste aller europäischen Strukturprobleme: Dazu bräuchte es eine Vertragsänderung, und für die ist Einstimmigkeit im Rat nötig. Straßburg aufzugeben, ist mit den Franzosen nicht zu machen.
Das Europaparlament steht sinnbildlich für ein Narrativ, das sich seit dem Brexit immer mehr in der europäischen Öffentlichkeit verfestigt: Die EU hat ein Problem.
Besucht man aber das Parlament, kann man es auch anders deuten: Die EU löst ein Problem. Sie verwandelt viele disparate Strömungen in ein Wir.
Was sollen wir tun?
Der Straßburger Plenarsaal sieht aus, als habe man den Sarkophag von Tschernobyl aus Holz nachgebaut. Eine riesige Kuppel über vier Stockwerke, mitten in der Glasrotunde des Gebäudes, glatt und verschlossen. Der Boden ist mit schwarzem Linoleum ausgelegt; es riecht leicht nach Provinzkrankenhaus. Aus einem der katakombenhaften Ausgänge eilt ein kleiner Mann. „Bitte nehmen Sie Platz. Die Sitzung wird fortgesetzt.“ Martin Schulz verliert keine Zeit und verteilt keine Herzlichkeiten.
In den folgenden Stunden und Tagen wird man Zeuge emotionaler, ernsthafter und vor allem: inhaltlicher Debatten. Die stärksten sind jene, die am Selbstverständnis dieser Versammlung rütteln: wenn es um den Rechtsruck in Polen geht, die Zusammenarbeit mit der Türkei, den Steuerdeal mit Apple – und natürlich die Lage der Union selbst.
Man erlebt dann Europa im Kleinen, weil weniger für Einzelne gestritten wird – Staaten, Parteien, Interessen –, sondern wieder und wieder dieselben Frage im Raum stehen, auch wenn niemand sie so stellt: Was ist Europa? Was sollen wir tun? Wie weit können wir gehen?
Von der geradezu lebensfeindlich klimatisierten Tribüne aus fällt der Blick auf die 24 Dolmetscherkabinen. Hinter braun getöntem Glas sitzen jeweils drei Dolmetscher. Wenn der Italiener Gianni Pittella von den Sozialdemokraten seinen Faden verloren hat, warten sie geduldig. Wenn die Französin Marine Le Pen ins Pseudohysterische kippt, versuchen sie sich an einer Imitation.
Will ein Redner die besondere Ernsthaftigkeit seines Anliegens beweisen, versucht er sich demonstrativ in etwas anderem als der Muttersprache. Das kann man prätentiös finden oder anbiedernd. Aber es zeigt auch: Man will verstanden werden. Wie, wenn nicht so, soll Europa funktionieren?
Sitzungen mit Würde
Der Blick wandert weiter auf die Bänke ganz außen links, die tatsächlich ganz rechtsaußen sind. In Straßburg hat man plötzlich alle einzelnen Schreckgespenster europäischer Demokraten vor sich versammelt. Diese Leute sind nicht hier, um mitzumachen. Sie sind hier, um die Idee zu zerstören, an deren Umsetzung die anderen arbeiten. Wenn sie in Abstimmungen ihre roten Lämpchen blinken lassen, was „dagegen“ bedeutet, verdichtet sich das ständige Raunen, Europa sei in Gefahr, auf einmal zu einem bedrohlich Konkreten.
Man verzweifelt angesichts des obszön zur Schau gestellten Weil-wir’s-können der Rechten, möchte am liebsten gehen – aber die anderen unten bleiben ja auch. Der Umgang im Plenarsaal ist – bis eben auf gelegentliche Ausfälle vom Rand her – von erstaunlicher Höflichkeit. Ständig bedankt sich jemand – fürs Zuhören, für die anregende Debatte, für die wichtigen Impulse, für die hervorragende Zusammenarbeit. Im Bundestag kommt das selten vor, und wenn, dann meist sarkastisch.
Hier aber herrscht ein Ton, der ständig zu erinnern scheint: Dass diese Sitzungen überhaupt stattfinden, ist schon eine Errungenschaft, führen wir sie also mit Würde.
Jeder kann etwas reißen
Will man erleben, wie groß die Begeisterung eines Einzelnen für das parlamentarische Europa werden kann, muss man in die „Members Bar“ im ersten Stock fahren. Dort sitzt Bernd Posselt mit seiner Referentin und einem doppelten Espresso. Für Posselt ist das Europaparlament das Größte. Er kennt und verehrt es seit dessen Gründung, darunter zwanzig Jahre lang als Abgeordneter. Bis zur letzten Wahl. Posselt ist kein Member mehr, nur noch „ehrenamtlich“, wie er es nennt. Aber er kommt noch immer in jeder Plenarwoche her. „In Straßburg“, sagt er, „verkörpert das Parlament eine Idee. In Brüssel ist es technokratisch.“
Das Europaparlament hält er für die demokratischste aller EU-Institutionen. „Man ist unglaublich frei.“ Tatsächlich gibt es keinen Fraktionszwang, höchstens Disziplin. Die jeweiligen Fraktionsspitzen in der ersten Reihe zeigen den Daumen hoch oder runter, während sie möglichst einnehmend nach hinten blicken. Wenn dann abgestimmt wird, blinkt es zwischen vielen grünen Lämpchen regelmäßig rot auf.
Im Europaparlament kann – theoretisch – jeder etwas reißen, der die überzeugenderen Argumente, den schlüssigsten Änderungsantrag hat. Mehrheiten finden sich immer wieder neu zusammen. Hauptsache, am Ende steht ein Ergebnis.
Manchen ist das zu viel Konsensromantik. Terry Reintke, junge Abgeordnete der Grünen und erst seit 2014 dabei, sagt: „Wir müssen stärker streiten, anstatt immer nur um Kompromisse bemüht zu sein.“ Man solle es auch mal drauf ankommen lassen, findet sie – und sich nicht von den Rechtspopulisten dazu nötigen lassen, eine einzige große, proeuropäische Koalition darzustellen.
Wir tragen alle Kopfhörer
Ob sie dafür eine Mehrheit findet? In Straßburg fällt sehr häufig das Wort „Wir“. Wir müssen uns kümmern, wir sollten versuchen, wir wollen – und so fort. Selten ist die Fraktion oder die Nationalität gemeint. Wir, das ist eigentlich immer eher zu verstehen als: wir als Parlament, wir Europäer.
Es ist schwer, sich diesem Wir zu entziehen. Schon deshalb, weil alle hier auf die schwarzen Kopfhörer angewiesen sind, über die sie die Übersetzungen hören können. Sie lassen alle gleich aussehen. Was europäische Identität bedeutet, spürt man nicht so sehr an einem verwaisten Grenzhäuschen irgendwo im Schengenraum. Sondern in diesem Saal.
Mag sein, dass es Konstruktionsfehler gibt, dass die Koalition auch hier zu groß ist, dass die Zeiten unschöner werden. Aber solange sich diese 750 hier versammeln, um aus vielen Sprachen und Interessen ein großes Ganzes zu finden, versteht man Europas Vision in all ihrer schönen Unmöglichkeit: Es gibt ein Wir, an dem sich alle reiben und doch irgendwie zueinanderfinden.
An dieses kleine Europa kann man glauben – warum also nicht auch an das große?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos