LEERE Vor zwei Jahren nahm der IS die jesidische Stadt Sindschar ein. Milizen eroberten sie zurück. Die Menschen bleiben verschwunden. Eine Fotoarbeit von Teun Voeten: Was der Terror übrig ließ
von Anastasia Hammerschmied
Ein zerstörter Friedhof mit umgeworfenen Grabsteinen. In der Mitte ist ein Baum auf die Gräber gefallen. An den Ästen hängen dutzende Stoffbänder. Eine Tradition der Jesiden, einer religiösen Minderheit, die vor allem im Irak lebt. Wünschen sich ein Mann und eine Frau ein Kind, hängen sie ein Band an einen Baum. Der niederländische Fotograf Teun Voeten hat im August die jesidische Stadt Sindschar im Norden des Irak besucht. Mitgebracht hat er Stillleben. Schwarz-weiße Fotos eines zerstörten Ortes.
Zwischen 2014 und 2015 wurde Sindschar von den Kämpfern des „Islamischen Staats“ besetzt. Im November 2015 haben kurdische Peschmerga-Kämpfer und die jesidische Miliz YBS die Stadt zurückerobert. Unterstützt wurden sie von Flugzeugen der US-Luftwaffe. Das Zentrum der Stadt wurde bombardiert.
Teun Voeten hat das Nachkriegs-Sarajevo und Kabul fotografiert. Über Sindschar sagt er: „Die ganze Stadt wurde zerstört. So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Im Zentrum Sindschars blieb kein einziges Gebäude stehen. Die Ruinen sind allein.
Auf den Fotos sind keine Menschen zu sehen. Niemand schaufelt den Schutt aus den Häusern. Niemand lebt zwischen den Betonbrocken. Eine Schafherde sucht im Staub nach Essen. Ein Bild von herumliegenden Knochen und Kleidern lässt die Gräuel vermuten, die hier stattfanden.
Die Knochen stammen aus einem Massengrab in Frontnähe. Nach der Vertreibung des IS wurden mehrere solche Gräber gefunden. Wie viele Bewohner Sindschars genau Opfer des IS wurden, ist unklar. Von Tausenden fehlt jede Spur.
Der „Islamische Staat“ nahm Sindschar im August 2014 ein. Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die davor die Stadt kontrollierten, flüchteten in das nahe Gebirge. Manche behaupten, sie wurden vom IS bestochen. Fast alle Bewohner Sindschars waren Jesiden, die vom IS als Götzenanbeter verfolgt werden. Viele von ihnen gelangten in den Nordirak, andere gingen mit den Peschmerga in die Berge. Dort harrten sie hungernd und ohne Wasser in der Sonne aus. Die Frauen und Mädchen, die zurückgeblieben waren, nahmen die IS-Kämpfer gefangen. Die Dschihadisten zwangen sie, zum Islam zu konvertieren. Bis zu 7.000 Frauen wurden verschleppt und verkauft, vergewaltigt und als Sklavinnen gehalten.
Nach dem Rückzug des IS war von Sindschar nicht viel übrig. Teun Voeten hat zwei offene Läden gesehen. Sie verkaufen Bier, Zigaretten und Kartoffeln an die Milizen. Ein Soldat bewacht die Straße, auf der niemand fährt. Zivilisten gibt es keine, niemanden, der erzählen kann, was hier passiert ist. Was der Terror übrig ließ, sind nicht nur kaputte Straßen, es sind schwindende Erinnerungen an tausende zerstörte Existenzen, die schon so weit weg sind, dass die Stadt selbst angefangen hat sie zu vergessen.
Der Fotograf: Teun Voeten hat Kulturanthropologie und Philosophie studiert. Seit 1990 arbeitet er als Kriegsfotograf. Er schrieb Bücher über Obdachlosigkeit in New York, den Bürgerkrieg in Sierra Leone und Gewalt in Mexiko. Seit 2016 dokumentiert er mit seiner Kollegin Maaike Engels moderne Migration für sein Projekt „Calais. Welcome to the Jungle“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen