Kunstausstellung in Frankfurt/Main: Melancholia im Zuckerbahnenland
Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zeigt Werke der indonesisch-niederländischen Fiona Tan. Eine Reise in die Verunsicherung.
Das ist natürlich gleich ein Wahnsinnsbild, mit dem Fiona Tans „Geografie der Zeit“ eröffnet: Im großen, museumslichtdurchfluteten Ausstellungssaal steht eine zuckersüße, quietschbunte Modellbahnlandschaft. Vor himmelblauem Sperrholzhimmel ohne Wolken, aber mit zartem Schornsteinruß offenbart sich ein dreidimensionales Wimmelbild. Das wirft kindliche Emotionen und Erinnerungen an, selbst für jene, die früher keinen Hobbykeller hatten: einmal Gott sein, von oben auf die Dinge blicken, die da im Moment eingefroren für alle Ewigkeit zu sehen sind.
Bei „1 to 87“ muss man schon einen näheren Blick wagen, sich herüberbeugen, Augen zusammenkneifen oder zumindest in die Hocke gehen. Assoziationen an „Synecdoche, New York“ werden wach, den großartigen Film-über-Kunst-Film von Charlie Kaufman, in dem die Ausstellungsbesucher Miniaturbilder mit Lupenbrillen betrachten und alles später in die genau entgegengesetzte Richtung läuft, nämlich überlebensgroß wird.
Was also sieht man hier? Eine hübsche Altstadt, ein paar Kleingärtner im Gemüsebeet, einen Zugunfall, einen Windpark, Müllkippen, ein Occupy-Zeltlager. Oben im Autokino werden Aufnahmen von Segelbooten und Wasserfällen gezeigt, die sich erst bei längerer Betrachtung als Aufzeichnungen von Katastrophen herausstellen. Das alte Dilemma der Erkenntnis: Je mehr man sieht, je mehr man zu wissen glaubt, umso stärker wächst die Verunsicherung.
„Beeindruckend, dieses gebrochene Klischee vom Europa der Glückseligen“, flüstert es aus der Besuchertraube; ja sicher, aber mal ehrlich, für eine Kapitalismuskritik allein ist das zu groß und der Kontrast zwischen Zucker-Panorama und Krisen zu gefällig. Hier sieht man nicht die Auswirkungen der Krise allein, hier stehen Unfälle und Unglücke und deren mediale Aufbereitung im Autokino neben all der zeitgleich erfrorenen Idylle, thronend auf einer Konstruktion aus Schränken, Schubladen und Regalen, die dem Diorama einen fantastisch absurden Rahmen obendraufsetzen. Eine Betrachtung über die Betrachtung – von Zeit, Katastrophen, Kunst und Weltmodellen.
Der persönliche Besitz, all der Nippes, Tinnef und Krempel
Natürlich spielen gesellschaftliche und politische Krisen eine Rolle; sie sind Ausgangspunkte, Plattformen, auf denen Tan ihre Stücke inszeniert. Vor etwa anderthalb Jahrzehnten, als der Weltgeist langsam, aber stetig zu entgleiten schien, setzt Fiona Tan an: Die Arbeiten der 1966 in Indonesien geborenen und in den Niederlanden lebenden Künstlerin versuchen, das nicht mehr Nachvollziehbare anhand einzelner Narrationen einzelner Menschen sichtbar zu machen – und in der aktuellen Schau: auch noch das übergeordnete Raum-Zeit-Kontinuum, ohne das Anfang und Ende der Geschichte nun einmal nicht denkbar sind. Das Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main bietet dafür die optimale Bühne mit seinen Winkeln und Ecken, den Durchsichten, Balkönchen und Kabinetten. Jede Arbeit hat ihren eigenen Wirkungsraum erhalten, den Tan großzügig bespielt.
Wie eine Filmausstatterin gestaltet sie prachtvolle Installationen, die in Arbeiten wie „Ghost Dwellings“ ihren Höhepunkt erreichen: Nachbauten von Lagerräumen, in denen Menschen ihr Hab und Gut unterbringen und, wenn die finanzielle Not allzu groß wird, illegal einziehen, sind überreich ausstaffiert – und werden somit zu ebenbürtigen Kontrahenten der hierin gezeigten Videoprojektionen. Für Fiona Tan ist persönlicher Besitz, all der Nippes, Tinnef und Krempel, den mensch halt so anhäuft im Laufe seines Lebens, auch ein Ausdruck ebenjenes, von dem sie hier reichlich Gebrauch macht.
Apokalypse, durch Bibelzitate hinaufbeschwört
Weitere Stationen von Tans Verortung der Zeit umfassen Erzählungen einer sagenumwobenen Insel und Video-Arbeiten wie „Nellie“, eine Hommage an Rembrandts vergessene Tochter in Indonesien. Später kommt dann noch eine wahlweise urkomische oder horrormäßige Ebene ins Spiel – und eine schöne Trash-Ästhetik, die Fiona Tans Repertoire dokumentarisch geprägter Aufnahmen erweitert. Gezeigt wird der filmische Flug über einen historischen Wandteppich mit endzeitlichem Dekor; dazu laufen Tickermeldungen in Rotschrift über den Bildschirm. „Attacks the Beasts“, „Walls & Terrible Demons“, „Satan Besieges the City“: visuelle und wörtliche Zitate aus der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments, das die ultimative Apokalypse hinaufbeschwört.
Fiona Tan. „Geografie der Zeit", bis 15. Januar 2017 im MMK Frankfurt. Ein Katalog erscheint bei Koenig Books, London.
Ob man heutige Eilmeldungen im Vergleich zu dieser wirklich nicht für zarte Gemüter geeigneten Schrift nun für übertrieben und harmlos hält, die Endzeit nun wahrhaftig langsam anlaufen sieht oder ganz und gar über der Dialektik der Geschichte zu stehen glaubt, bleibt somit auch eine Frage der eigenen zeitlichen Perspektive. (Gemeint ist die biblische Schrift übrigens tröstlich, denn nach der Apokalypse geht es gut weiter für alle, die rechten Glaubens sind.)
Das Zucken der Münder
Typisch für Fiona Tans Arbeitsweise ist, dass sie an einem Ausgangspunkt beginnt und dann irgendwo ganz anders landet. Das allein ist keine so besondere Sache, wo Experiment, Versuch und Irrtum zum künstlerischen Alltag gehören. Hier geht es aber nicht um ein lässiges „Mal schauen, wie das so wird“ – vielmehr können auch sorgfältig geplante und inszenierte Arbeiten eine völlig andere Richtung einschlagen – wie die Zwillingspaare auf Gotland, deren filmische Dokumentation eigentlich den Lauf der Zeit visualisieren sollte, aber sich dann auf dem Eiland vor allem als Arbeit über Konstanz herausstellte.
Auch hier sind die Protagonisten wie eingefroren, in fotografischen Posen müssen sie vor der Kamera ausharren; Muskeln zittern, Mundwinkel zucken, während sie stetig älter werden und sich dabei eigentlich doch kaum verändern. Und die Aufnahmen aus Fukushima und Detroit in „Ghost Dwellings“: Der Gegend scheint’s, so eine zynische Lesart, ja eigentlich ganz gut zu gehen, traurig wird es vor allem für den Menschen. Doch der, so hört und denkt und weiß man, ist schließlich stets Ausgangspunkt in Tans Œuvre.
Quo vadis? Wer gern mit leichtfüßigen Antworten nach Hause geht, könnte enttäuscht werden: Es löst sich nicht alles auf in Fiona Tans neuer Schau, aus den bildgewaltigen Arrangements strömt schon bittersüße Melancholie. Die Zeit lagert neue Schichten ein. Eventuell wird alles sogar noch viel, viel komplizierter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!