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Leben im Ungewissen

Hamsha* aus Tel Kasab„Die Peschmerga haben uns gesagt, dass wir nicht fliehen sollen. Wir sind geblieben.“Hamsha war neun Monate mit ihren Kindern in IS-Gefangenschaft, wo sie an unterschiedliche Orte im IS-kontrollierten Gebiet gebracht wurden. Von ihrem Ehemann fehlt jede Spur. Sie lebt in einem der informellen Camps nahe Dohuk, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak.* Die Namen der Betroffenen wurden geändert, da sie die Rache des IS an verschleppten Familienmitgliedern befürchten

Von Birgit Haubner (Text und Fotos)

Hanifa aus Gir Izer„Meine 11-jährige Schwester rief mich aus Rakka an und ­sagte, dass sie verkauft wurde. Das heißt, sie ist vergewaltigt worden. Meine andere Schwester hat versucht, sich in Gefangenschaft das Leben zu nehmen.“Hanifa, 29, konnte sich vor dem IS in das Sindschar-Gebirge retten. Drei ihrer Schwestern sind vom IS verschleppt. Zwei andere Schwestern, ihre Mutter und ihr Bruder befinden sich zur Traumatherapie in Deutschland. Hanifa lebt in einem Rohbau in Sharya, nahe Dohuk.
Graduiertenfeier630 jesidische Studentinnen und Studenten feiern im Sommer 2016 ihren Universitätsabschluss. Es ist das erste große Fest seit dem Genozid. Viele mussten ihr Studium abbrechen, als der IS die Region überfiel. Früher hätten die Jesiden viel gefeiert, aber jetzt, nach all den Toten und Verschleppten, sei es schwierig, mit dem Leben weiterzumachen, sagt einer der Studenten. Die jungen Akademiker haben wenig Aussicht auf einen Job. Deshalb möchten viele von ihnen nach Europa gehen.
Wedha* aus Kocho„Das Leben ist sehr hart, weil wir im Ungewissen sind, was mit unseren Angehörigen geschehen ist. Wir wollen nur zurückgehen, wenn unsere Männer wieder da sind. Aber lieber gingen wir nach Deutschland, denn hier bekommen wir keine Unterstützung.“Wedha hält den Pullover ihres vermissten 19-jährigen Sohns in den Händen. Seit der IS ihr Dorf überrannte, sind er und ihr Ehemann verschwunden. In Kocho wurden etwa 600 jesidische Männer getötet und 1.000 Frauen verschleppt. Auch Wedha war unter ihnen. Vor einigen Monaten gelang es ihr, zusammen mit zwei ihrer Kinder dem IS zu entkommen. Sie lebt jetzt in Dohuk.

Am 3. August 2014 eroberten Kämpfer des „Islamischen Staats“ (IS) das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Sindschar-Gebirge im Nord­irak. Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit, die vom IS als „Ungläubige“ grausam verfolgt werden: Etwa 400.000 Jesiden wurden vertrieben, verschleppt oder ermordet. Eine UN-Kommission hat im Juni 2016 die Verbrechen an den Jesiden als Völkermord eingestuft. Weiterhin befinden sich über 3.000 Frauen in Händen des IS, die als Sexsklavinnen an IS-Kämpfer verkauft werden. Entführte Jungen trennt man von ihren Familien und bildet sie zu IS-Kämpfern aus. Die Entkommenen leben in Lagern unter miserablen Bedingungen. Doch eine Rückkehr nach Sindschar kommt für die wenigsten von ihnen infrage: Der IS hat noch mehrere Dörfer unter seiner Kontrolle. Für Unsicherheit sorgt auch der politische Machtkampf um die Region. Bei den Jesiden sitzt der Schock noch tief, dass sie schutzlos dem IS ausgeliefert waren, als die Peschmerga ihre Stellungen aufgaben. Auch das Misstrauen gegen ihre einstigen arabisch-sunnitischen Nachbarn ist groß. Viele Jesiden sehen deshalb ihren Schutz nur durch eigene Verteidigungskräfte, Selbstverwaltung und internationalen Schutz garantiert.

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