70 Jahre Länder im Norden: Happy Birthday, Nordstaaten!
Vor 70 Jahren haben die Briten Niedersachsen und Schleswig-Holstein geschaffen. Die Aufteilung wird bis heute debattiert. Ein Pro&Contra.
Vor 70 Jahren begannen die Briten, den westdeutschen Teil des ehemaligen Landes Preußen zu zerschlagen und die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu schaffen. Der Sinn der Aufteilung ist Gegenstand wiederkehrender Debatten. Wäre es nicht sinnvoller, einen großen Nordstaat zu haben?
Ja – ein Nordstaat wäre naheliegend!
Der Streit über das Gastschüler-Abkommen, darüber, wo das Baggergut aus dem Hamburger Hafen verklappt werden darf oder um Ausgleichsflächen für den Naturschutz: Das sind nur drei Beispiele, in denen die Problemlösung dadurch erschwert wird, dass es eine Landesgrenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein gibt. Die Grenze schafft zwei Akteure und damit automatisch unterschiedliche Interessen, die mit großem Aufwand ausgeglichen werden müssen.
Dabei wäre es naheliegend, gerade aus Hamburg und Schleswig-Holstein ein Bundesland zu machen. Hamburg ist mit seinem nördlichen Nachbarn in der Siedlungsentwicklung besonders stark verflochten. Eher städtische und eher dörfliche Strukturen gehen wechselseitig ineinander über.
„Bei einem Zusammenschluss könnten die Parlamente und viele Verwaltungen zusammengelegt und damit verkleinert werden.“
Dort, wo die Landesgrenze verläuft, ist Hamburg oft keine Großstadt mehr. Bloß dass sich Familien, die ins Grüne ziehen wollen, bisher genau überlegen müssen, in welchem Bundesland ihr Haus liegt, weil davon abhängt, wie teuer die Kinderbetreuung ist oder wo die Kinder zur Schule gehen können.
Die beiden Länder haben größenmäßig in etwa das gleiche Kaliber. Was Schleswig-Holstein mit 2,9 gegenüber 1,8 Millionen mehr an Einwohnern mitbringt, gleicht Hamburg mit seiner größeren Wirtschaftsleistung von 109 gegenüber 84 Milliarden Euro aus.
Bei einem Zusammenschluss könnten die Parlamente und viele Verwaltungen zusammengelegt und damit verkleinert werden. Ein Landtagswahlkampf fiele weg, was den bundesweiten Politikbetrieb entspannen würde. Außerdem ergäben sich Effizienzgewinne, weil Doppelarbeit wegfiele. Zwei Untersuchungsausschüsse zur HSH-Nordbank-Affäre etwa mit zweimaligem Antanzen der Zeugen waren unnötig.
Die Nordbank ist ein Fall, in dem sich die Länder bereits in ein gemeinsames – leider sinkendes – Boot gesetzt haben. Das Statistikamt Nord ist ein weiteres und beim Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie arbeiten beide sogar mit Niedersachsen zusammen.
Ein größeres Land hätte größere Chancen, sich im internationalen Standortwettbewerb zu behaupten. Es täte sich leichter bei der Planung von Verkehrswegen und Energietrassen und bei der Raumplanung am Übergang zwischen der Stadt und ihrem Umland.
Und was heißt das in Zahlen? Eine Enquete-Kommission des schleswig-holsteinischen Landtages schätzte die möglichen Einsparungen 2012 auf 100 bis 800 Millionen Euro im Jahr. Das Argument, dass zugleich eine Milliarde Euro aus dem Länderfinanzausgleich wegfielen, spricht gesamtstaatlich betrachtet eher für eine Fusion. Es wirft ein Schlaglicht auf die Mängel des heutigen Systems.
Nein – ein Nordstaat wäre unvernünftig!
Wenn eine Politikerin wie Monika Heinold (Grüne), die Finanzministerin Schleswig-Holsteins, behauptet, sie sei „Fan der Idee des Nordstaats“, weckt das Sorgen. Denn Politik gewinnt, wenn sie rational betrieben wird. Einer Idee blind anzuhängen dagegen, Fan zu sein – das lässt Schlimmes ahnen. Und zumal die ewig alte Nordstaat-Idee sollte einer Finanzministerin suspekt sein. Denn dass sich der Nordstaat finanziell nicht lohnt, außer für Bayern, haben alle einschlägigen Gutachten des laufenden Jahrhunderts festgestellt. Und das ist ja nun mal ein leicht erkennbarer Nachteil: Geld haben ist nämlich besser, als keines haben.
Die Höhe des Verlusts schwankt je nach Modell: Bei der kleinen Fusion von Hamburg mit Schleswig-Holstein wären 1,1 Milliarden Euro jährlich futsch, war 2006 die Ansage des Ifo-Instituts. Es ist die fusionsfreundlichste Rechnung. Aktuellere erwarten bei der großen Aus-fünf-mach-eins-Lösung ein Minus von 15,6 Milliarden per anno für das Land zwischen Teutoburger Wald, Sylt, Harz und Rügen. Und davon ist Heinold Fan? Irre.
„Eine Zusammenlegung der Länder würde die Problemlagen in der Nordstaat-Statistik nivellieren und so den Blick für die harten Realitäten verschleiern“
Die Pseudo-Idee eines Nordstaats setzt auf die Annahme, eine größere staatliche Einheit wäre leistungsfähiger. Worauf sich ihre Anhänger berufen, ist unklar. Die empirische Forschung jedenfalls hat das widerlegt. Und die Welterfahrung tut das auch: Russland und Türkei sind trotz ihrer Größe nicht wohlauf. Zwergstaaten wie Liechtenstein, Luxembourg oder Estland erweisen sich hingegen als hochdynamisch. Ähnliches gilt in föderalen Systemen. So hat der Kanton Zug knapp ein Drittel der Fläche Hamburgs. Es wohnen dort 123.000 Menschen. In den 1950ern galt er als Armenhaus der Schweiz. Heute ist er der reichste der 26 Kantone.
Klar gibt’s auch kleine Länder mit Riesenproblemen. Die stehen aber nicht im kausalen Zusammenhang zu deren Umfang. Nur im Krieg sind Größe und Bevölkerungsmasse der entscheidende Faktor. Planen die Nordstaatisten einen Bayern-Feldzug?
Hoffentlich nicht. Und hoffentlich wenden sie sich statt dieser Geisterdebatte echten Themen ihrer Länder zu: Die sind vielgestaltig. Sicher wäre es ein Gewinn für Deutschland und eine Entlastung der Küstenregionen, endlich Heinolds Heimat in Anpassung an die Klimafolgen als Überflutungsgebiet aufzugeben.
Die übrigen Nord-Länder sind aber unverzichtbar im föderalen Konzert: So gibt es Großstadtprobleme in Hamburg, in Mecklenburg-Vorpommern hat man mit Landflucht und Strukturdefiziten zu tun, in Niedersachsen verseucht der Tierüberschuss das Grundwasser, und nirgends sind die desaströsen Auswirkungen der Schröder’schen Steuerreform auf die Kommunen besser zu erleben als in Bremen.
Sinn eines föderalen Systems ist es, die Differenzen zu bewahren – und ihnen zum Trotz Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustellen. Eine Zusammenlegung der Länder würde die Problemlagen aber nur in der Nordstaat-Statistik nivellieren und so den Blick für die harten Realitäten verschleiern: Das ist nichts, außer schlechter Politik.
Leser*innenkommentare
Khaled Chaabouté
Ein Teil der wirtschaftlichen "Dynamik" ist allein dem ausgerufenen Wettbewerb aller gegen alle geschuldet, die schon jetzt zu quasi ungenutzten, aber bestens ausgebauten Hochseehäfen wie Wilhelmshaven und gleichzeitig zum ruinösen Elbeausbau in Hamburg und zur Reaktivierung der Güterbahnstrecke von NRW nach Antwerpen führt. Hier könnte eine sinnvolle Verkehrspolitik in der Tat Investitionen besser bündeln. Das dadurch eingesparte Geld ist nicht einfach futsch, sondern könnte an anderer Stelle effektiver eingesetzt werden, wenn es nicht gerade Autobahn bis ins letzte Dorf bedeutet, was ja immerhin auch Arbeitsplätze schaffen würde.
Solange unser Land vom Würgegriff des Neoliberalismus, von Wettbewerbs- und Privatisierungsdruck beherrscht wird, kann jede strukturelle Verbesserung sich je nach Standpunkt auch als Kombination von Nachteilen entpuppen.
kditd
Schleswig-Holstein würde dabei nur verlieren. Die Bundesregierung hat doch schon jetzt Probleme, SH auf der Karte zu finden. Wenn hier mal ne Schleuse kaputt ist, juckt das in Berlin heute schon keinen. Außerhalb Schleswig-Holsteins hat man keinen Blick für die speziellen Bedürfnisse und Eigenarten des Landes. Bei Projekten wie der Fehmarnbeltquerung würde es in einem Nordstaat erstmal Streit darüber geben, ob man nicht lieber in Niedersachsen ein Containerterminal baut. Die Notwendigkeit solcher Projekte in SH wäre noch schwerer zu vermitteln. Für uns hier oben ist der Kram aber wichtig.
Und was wäre mit der gelungenen Minderheitenpolitik? Wie würde man das im Nordstaat regeln? Wie würden die Minderheiten repräsentiert? Und würde sich dagegen im Süden nicht Widerstand regen? Die deutschen Interessen würden erdrückend werden, und die Minderheiten untergehen. Das ist aber eine kulturelle Besonderheit in SH, die uns bereichert.
Ich befürchte einfach, Schleswig-Holstein würde unter die Räder kommen, wenn es keine eigene Regierung mehr hätte. Der Norden würde wirtschaftlich und kulturell noch mehr abgehängt. SH würde bedeutungsmäßig auf den Nord-Ostsee-Kanal reduziert, der Rest fällt ins Provinzdasein zurück. Die Entscheidungen werden dann anderswo getroffen. Da können wir uns hier oben die Kugel geben.
Nee nee du, wir sollten unsere eigene Landesregierung mal schön behalten.
mowgli
Ja, diese (künstliche) Grenze "schafft zwei Akteure und damit automatisch unterschiedliche Interessen, die mit großem Aufwand ausgeglichen werden müssen". Aber ist ein "großer Nordstaat" wirklich eine tragfähige Alternative?
Ich fürchte nicht. Wie ich die Nordlichter (die ja auch nur Menschen sind, nicht wahr) kenne, würde in einem Großstaat "durchregiert" - auf Kosten all der Dinge, über die man trefflich streiten kann, wenn nicht nur einer die Verantwortung beansprucht. Gastschüler, Baggergut oder Ausgleichsflächen mögen nur drei von vielen Beispielen sein, in denen die Problemlösung erschwert wird, wenn man miteinander reden muss. Man könnte die Sache aber auch ein wenig anders sehen. So Glas-halb-voll-mäßig, meine ich. Man könnte nämlich auch behaupten, dass Gastschüler, Baggergut oder Ausgleichsflächen drei Beispiele für Themen sind, über die gar nicht geredet werden würde, wenn nicht geredet werden müsste darüber. Und dieses Schweigen würde den Norden nicht gerade zukunftsfähiger machen.
Dass sich "der Nordstaat finanziell nicht lohnt" (außer vielleicht für Bayern), mag ja sein. Hier geht es allerdings nicht nur um die Frage, ob der nächste Haushalt rote oder schwarze Zahlen schreibt. Hier geht es um die Zukunft einer ganzen Region. Und die sieht düster aus, wenn Probleme nicht erkannt und also auch nicht bearbeitet werden müssen, weil niemand sie benennt in der debatte. Um das zu wissen, brauche ich kein Gutachten. Das hat meine ganz private "empirische Forschung" zweifelsfrei belegt.