: Verdrängter Straßenstrich
Prostitution Weil rund um den Strich in der Kurfürstenstraße immer mehr gebaut wird, verschwinden öffentliche Räume, in denen Prostituierte und Freier ungestört verkehren können. Das Geschäft verlagert sich in die Seitenstraßen – das sorgt für viel Ärger
von Hülya Gürler
Auf dem Gelände des Kaufhauses Möbel Hübner in Mitte, gleich hinter dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße, sieht es schon lange ziemlich unappetitlich aus. Hier liegen jeden Morgen unzählige benutzte Kondome, Pappbecher und Feuchttücher. Ein ähnliches Bild bietet sich dem Betrachter eine Straße weiter am Magdeburger Platz. „Vor lauter weißen Tüchern sieht es hier sonntags morgens so aus, als ob es geschneit hätte“, sagt eine Anwohnerin. Hier in der ruhigen Sackgasse, einige Meter weiter weg von den Stehplätzen der Straßenstrichs und mitten in einer Wohngegend, machen Prostituierte in parkenden Autos das, wofür Freier sie bezahlen, und werfen Arbeitsutensilien wie benutzte Kondome anschließend einfach auf die Straße.
Auf der Kurfürstenstraße befinden sich bis auf einige wenige Läden, Cafés und besagte Möbelfirma kaum Geschäfte. Das ist für die zentrale Stadtlage eher ungewöhnlich, wegen des Straßenstrichs aber verständlich.
Viele Anwohner glauben, dass die Zustände so sind, weil die Zahl der Frauen, die auf dem Billigstrich arbeiten, zugenommen hat. Die Soziologin Christiane Howe ist da anderer Ansicht. 2011 hat sie im Auftrag des Bezirks Tempelhof-Schöneberg eine Studie durchgeführt und kommt zu diesem Schluss: „Durch zunehmende Bebauung rund um den Straßenstrich verschwinden Räume, in denen Freier und Prostituierte ungestört den Sexualverkehr vollziehen können.“ Deshalb verlagere er sich zunehmend in die Seitenstraßen und Wohngegenden“, sagt Howe. Dort, wo es früher „Vollzugsmöglichkeiten“ auf Brachen gab, sollen neue Bauten entstehen. Diese privatisierten Plätze sind heute durch hohe Zäune gesperrt.
Teures Wohneigentum
In der Straße will nun gegenüber der Zwölf-Apostel-Kirche eine Immobilienfirma auf einer ehemaligen Brache das Carré Voltaire errichten. Im Bau befinden sich 127 teure Eigentumswohnungen. Ein anderer Investor, die Firma Lagrande, hat die Freifläche schräg gegenüber für sich entdeckt. Auf dem Gelände des ehemaligen Getränkehandels Ambrosius soll Ende dieses Jahres der Bau des Kurfürstenhofs mit 189 Wohnungen und Läden beginnen. Insgesamt sollen etwa 500 neue Wohnungen nebst Einzelhandel und Gastronomie im Quartier zwischen Potsdamer Straße, Bülowstraße und Schöneberger Ufer entstehen. Platz für Straßenstrich und Freier – Fehlanzeige.
Eine andere Rückzugsmöglichkeit für Freier mit Autos ist vor Längerem weiter östlich weggebrochen. Die ehemalige Bahnbrache am Gleisdreieck ist von 2011 bis 2014 zum Park umgestaltet worden, am Rand stehen neue Wohnungen. Es findet eine regelrechte Verdrängung des Straßenstrichs durch immer mehr neue und teure Bauten statt. Im Umkehrfall habe der Straßenstrich im Quartier „bisher dafür gesorgt, dass die Mietpreise moderat blieben“, sagt die Stadträtin von Tempelhof-Schöneberg, Sibyll Klotz, der taz.
Wegen des Unrats auf dem Straßenstrich mit anschließendem Rattenbefall ist der Park auf dem Magdeburger Platz seit letzten Herbst sehr zum Ärger der Anwohner gesperrt. Einige wollen den Schmutz und den „Vollzug“, wie sie den gewerblichen sexuellen Kontakt nennen, vor ihrer Haustür nicht mehr hinnehmen. Hinzu komme der Lärm.
„Zu lange habe ich das Elend ertragen. Es belastet mich“, sagt eine Anwohnerin. Ihren Namen will die 64-Jährige nicht nennen, so wie einige andere Bewohner im Kiez, die sich im November letzten Jahres im Arbeitskreis „Gegen den Strich“ zusammengeschlossen haben. Sie alle verbindet, dass ihnen der Straßenstrich nach den Aussagen von Mietern besonders in den letzten Jahren zu nah auf die Pelle gerückt ist – zum Teil auf den Straßen vor den Wohnungen.
Der Arbeitskreis will nach eigenen Angaben eine „Sperrgebietsverordnung“ durchsetzen. 1.500 Unterschriften habe er bereits gesammelt. Zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten sollen demnach die betroffenen Bezirke Prostitution verbieten können. So zum Beispiel dürfe die Werbung um Freier und schon gar nicht der öffentliche „Vollzug“ vor Kitas, Schulen und anderen Einrichtungen für Jugendliche und Familien stattfinden. Denn auch das sei Realität, wie die Schönebergerin Hafize Ayer gesehen hat, so erzählt sie. Auf dem grünen Gelände eines Familienzentrums in der Lützowstraße, parallel zur Kurfürstenstraße, habe sie miterlebt, wie Freier mit Prostituierten zwischen Hecken verkehrten. „Hier spielen Kinder. Die sehen das“, sagt die 42-Jährige.
Berlins über Landesgrenzen hinaus bekannter Straßenstrich in der Gegend um die Bülow-, Potsdamer und Kurfürstenstraße existiert seit rund 130 Jahren. 1885 wurde er erstmals erwähnt.
Durch den Straßenstrich sind die Mietpreise im Kiez bisher relativ moderat geblieben, sodass auch Familien mit geringem Einkommen hier leben können. In den letzten Jahren jedoch entdecken Immobilienfirmen das zentral gelegene Quartier für teure Bauvorhaben. Eine Folge der teils teuren Bauvorhaben könnte die Verdrängung des Straßenstrichs sein.
Auf dem Strich arbeiten rund 560 Frauen. Die meisten kommen laut Angaben der Polizei aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Manche halten sich nur zeitweilig in Berlin auf und ziehen dann wieder weiter. Andere arbeiten schon seit zehn und noch mehr Jahren auf dem Straßenstrich.
Je nach Nachfrage ist der Strich unter anderem eingeteilt in den „Transenstrich“ in der Frobenstraße, wo nur transsexuelle Frauen arbeiten, oder den „Hausfrauenstrich“ mit eher älteren Frauen in der Genthiner Straße.
In der Umgebung befinden sich billige Absteigen wie zwei Stundenhotels, wo Freier für 10 bis 15 Euro die halbe Stunde ein Zimmer mieten können. (hg)
Die Situation habe sich nicht nur wegen der Bauaktivitäten in der Gegend, sondern auch durch die Armutsmigration verschlimmert, sagt Sibyll Klotz. Seit der EU-Osterweiterung kommen vor allem Frauen aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien hierher. „Viele sind beim Werben von Freiern offensiver und lauter als alteingesessene Prostituierte“, stellt Christiane Howe fest. „Das empfinden viele Anwohner und Passanten als Belästigung.“
Die Beratungsstelle Olga, die Prostituierte im Kiez berät, versucht deshalb, den Frauen in ihren Muttersprachen zu erklären, was hier geht und was nicht. Allzu freizügige Kleidung zum Beispiel ist nicht ratsam.
Den gesamteuropäischen Problemen der Armutszuwanderung könne man nicht allein mit Verboten begegnen, meint Carsten Spallek von der CDU. Der Stadtrat von Mitte hält aber Sperrzeiten für sinnvoll. „Wir setzen auf Aufklärung – auch auf die der Freier.“
Den Bezirk ganz für den Straßenstrich zu sperren „sei zwecklos“, meint der Bezirksbürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD). Der Grund dafür ist einfach: Seit etwa 130 Jahren hat sich der Straßenstrich hier schon etabliert und ist einfach nicht wegzukriegen. „Außerdem ist er hier gut kontrollierbar und in Beratungsangebote eingebunden“, betont Hanke. Andernorts, wie beispielsweise auf Gewerbegebieten an Stadträndern, wären die Frauen der Gewalt von Zuhältern noch viel weniger kontrolliert ausgesetzt als hier, behauptet der SPD-Politiker.
Strich soll aussterben
Große Investoren wie die Firma Lagrande hingegen hoffen wohl, dass der Strich, wenn erst einmal neue Wohnungen stehen, „auf natürliche Weise langsam ausstirbt“. Das sagt ein Mitarbeiter der Firma, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Kleinere Investoren hingegen ließen sich „viel eher auf den Kiez und seine Kultur ein“, stellt Sibyll Klotz fest.
Nicht nur Anwohner sind betroffen. Die Semerkand-Moschee auf der Kurfürstenstraße hat nach eigenen Angaben zuletzt vor zwei Jahren eine Unterschriftenaktion gestartet, weil Prostituierte mit ihren Freiern vor der Moschee im Hinterhof verkehrt haben sollen. Die Gemeinde der Zwölf-Apostel-Kirche versucht dagegen, sich mit dem Strich, so gut es geht, zu arrangieren. Ihre Mitglieder verteilen jeden Mittwoch warmes Essen, Kleidung und sauberes Spritzbesteck an Drogenabhängige.
Seit Jahren versuchen die beiden betroffenen Bezirke Tempelhof-Schöneberg und Mitte das Zusammenleben für alle möglichst verträglich zu gestalten und beziehen dabei Anwohner, Beratungsstellen und Gewerbetreibende mit ein.
Lösungsvorschläge für die Probleme im Kiez kamen auch von Anwohnern selbst. Sie reichen von Boxen für den vor fremden Blicken geschützten „Vollzug“, mehr Mülleimern auf disponierten Plätzen bis hin zu öffentlichen Toiletten für die Prostituierten. „Vielen Frauen ist es unangenehm,“ sagt Monika Nürnberger, die Leiterin von Olga, „die Notdurft einfach auf freien Flächen verrichten zu müssen.“
Viele Frauen, die auf den Strich gehen, haben aber ganz andere Sorgen. Eine von ihnen ist Sophia. Seit neun Jahren geht sie anschaffen. Sophia muss ihre vier Kinder in Lettland versorgen. Je nach Dienstleistung nehme sie 20 bis 30 Euro pro Freier. Wenn es gut läuft, hätte sie zehn am Tag. Das Geld reiche dann gerade mal zum Leben in Berlin. Nur alle zwei bis drei Monate könne sie Geld an ihre Familie überweisen.
Für den Unmut vieler Anwohner hat die 29-Jährige Verständnis. Wenn möglich, vermeide sie Sex auf öffentlichen Plätzen, denn das sei in vielerlei Hinsicht zu riskant. Außerdem sei die Situation auf dem Strich „schlimmer geworden“, sagt Sophia. Die Frauen würden untereinander um Stehplätze kämpfen. Und hinzu kämen Freier, die die Preise immer weiter drücken wollten.
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