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Verdrängter Straßenstrich

Prostitution Weil rund um den Strich in der Kurfürstenstraße immer mehr gebaut wird, verschwinden öffentliche Räume, in denen Prostituierte und Freier ungestört verkehren können. Das Geschäft verlagert sich in die Seitenstraßen – das sorgt für viel Ärger

Entlang der Kurfürstenstraße, Berlins bekanntestem Straßenstrich, verschwindet immer mehr öffentlicher Raum, weil er bebaut wird Foto: Joanna Kosowska

von Hülya Gürler

Auf dem Ge­län­de des Kauf­hau­ses Möbel Hüb­ner in Mitte, gleich hin­ter dem Stra­ßen­strich in der Kur­fürs­ten­stra­ße, sieht es schon lange ziem­lich un­ap­pe­tit­lich aus. Hier lie­gen jeden Mor­gen un­zäh­li­ge be­nutz­te Kon­do­me, Papp­be­cher und Feucht­tü­cher. Ein ähn­li­ches Bild bie­tet sich dem Be­trach­ter eine Stra­ße wei­ter am Mag­d­e­bur­ger Platz. „Vor lau­ter wei­ßen Tü­chern sieht es hier sonn­tags mor­gens so aus, als ob es ge­schneit hätte“, sagt eine An­woh­ne­rin. Hier in der ru­hi­gen Sack­gas­se, ei­ni­ge Meter wei­ter weg von den Steh­plät­zen der Stra­ßen­strichs und mit­ten in einer Wohn­ge­gend, ma­chen Pro­sti­tu­ier­te in par­ken­den Autos das, wofür Frei­er sie be­zah­len, und wer­fen Ar­beits­u­ten­si­li­en wie be­nutz­te Kon­do­me an­schlie­ßend ein­fach auf die Stra­ße.

Auf der Kur­fürs­ten­stra­ße be­fin­den sich bis auf ei­ni­ge we­ni­ge Läden, Cafés und be­sag­te Mö­bel­fir­ma kaum Ge­schäf­te. Das ist für die zen­tra­le Stadt­la­ge eher un­ge­wöhn­lich, wegen des Stra­ßen­strichs aber ver­ständ­lich.

Viele An­woh­ner glau­ben, dass die Zu­stän­de so sind, weil die Zahl der Frau­en, die auf dem Bil­lig­s­trich ar­bei­ten, zu­ge­nom­men hat. Die So­zio­lo­gin Chris­tia­ne Howe ist da an­de­rer An­sicht. 2011 hat sie im Auf­trag des Be­zirks Tem­pel­hof-Schö­ne­berg eine Stu­die durch­ge­führt und kommt zu die­sem Schluss: „Durch zu­neh­men­de Be­bau­ung rund um den Stra­ßen­strich ver­schwin­den Räume, in denen Frei­er und Pro­sti­tu­ier­te un­ge­stört den Se­xu­al­ver­kehr voll­zie­hen kön­nen.“ Des­halb ver­la­ge­re er sich zu­neh­mend in die Sei­ten­stra­ßen und Wohn­ge­gen­den“, sagt Howe. Dort, wo es frü­her „Voll­zugs­mög­lich­kei­ten“ auf Bra­chen gab, sol­len neue Bau­ten ent­ste­hen. Diese pri­va­ti­sier­ten Plät­ze sind heute durch hohe Zäune ge­sperrt.

Teures Wohneigentum

In der Stra­ße will nun ge­gen­über der Zwölf-Apos­tel-Kir­che eine Im­mo­bi­li­en­fir­ma auf einer ehe­ma­li­gen Bra­che das Carré Volta­ire er­rich­ten. Im Bau be­fin­den sich 127 teure Ei­gen­tums­woh­nun­gen. Ein an­de­rer In­ves­tor, die Firma La­gran­de, hat die Frei­flä­che schräg ge­gen­über für sich ent­deckt. Auf dem Ge­län­de des ehe­ma­li­gen Ge­trän­ke­han­dels Am­bro­si­us soll Ende die­ses Jah­res der Bau des Kur­fürs­ten­ho­fs mit 189 Woh­nun­gen und Läden be­gin­nen. Ins­ge­samt sol­len etwa 500 neue Woh­nun­gen nebst Ein­zel­han­del und Gas­tro­no­mie im Quar­tier zwi­schen Pots­da­mer Stra­ße, Bü­low­stra­ße und Schö­ne­ber­ger Ufer ent­ste­hen. Platz für Stra­ßen­strich und Frei­er – Fehl­an­zei­ge.

Eine an­de­re Rück­zugs­mög­lich­keit für Frei­er mit Autos ist vor Län­ge­rem wei­ter öst­lich weg­ge­bro­chen. Die ehe­ma­li­ge Bahn­bra­che am Gleis­drei­eck ist von 2011 bis 2014 zum Park um­ge­stal­tet wor­den, am Rand ste­hen neue Woh­nun­gen. Es fin­det eine re­gel­rech­te Ver­drän­gung des Stra­ßen­strichs durch immer mehr neue und teure Bau­ten statt. Im Um­kehr­fall habe der Stra­ßen­strich im Quar­tier „bis­her dafür ge­sorgt, dass die Miet­prei­se mo­de­rat blie­ben“, sagt die Stadt­rä­tin von Tem­pel­hof-Schö­ne­berg, Sibyll Klotz, der taz.

Wegen des Un­rats auf dem Stra­ßen­strich mit an­schlie­ßen­dem Rat­ten­be­fall ist der Park auf dem Mag­d­e­bur­ger Platz seit letz­ten Herbst sehr zum Ärger der An­woh­ner ge­sperrt. Ei­ni­ge wol­len den Schmutz und den „Voll­zug“, wie sie den ge­werb­li­chen se­xu­el­len Kon­takt nen­nen, vor ihrer Haus­tür nicht mehr hin­neh­men. Hinzu komme der Lärm.

„Zu lange habe ich das Elend er­tra­gen. Es be­las­tet mich“, sagt eine An­woh­ne­rin. Ihren Namen will die 64-Jäh­ri­ge nicht nen­nen, so wie ei­ni­ge an­de­re Be­woh­ner im Kiez, die sich im No­vem­ber letz­ten Jah­res im Ar­beits­kreis „Gegen den Strich“ zu­sam­men­ge­schlos­sen haben. Sie alle ver­bin­det, dass ihnen der Stra­ßen­strich nach den Aus­sa­gen von Mie­tern be­son­ders in den letz­ten Jah­ren zu nah auf die Pelle ge­rückt ist – zum Teil auf den Stra­ßen vor den Woh­nun­gen.

Der Ar­beits­kreis will nach ei­ge­nen An­ga­ben eine „Sperr­ge­biets­ver­ord­nung“ durch­set­zen. 1.500 Un­ter­schrif­ten habe er be­reits ge­sam­melt. Zu be­stimm­ten Zei­ten und an be­stimm­ten Orten sol­len dem­nach die be­trof­fe­nen Be­zir­ke Pro­sti­tu­ti­on ver­bie­ten kön­nen. So zum Bei­spiel dürfe die Wer­bung um Frei­er und schon gar nicht der öf­fent­li­che „Voll­zug“ vor Kitas, Schu­len und an­de­ren Ein­rich­tun­gen für Ju­gend­li­che und Fa­mi­li­en statt­fin­den. Denn auch das sei Rea­li­tät, wie die Schö­ne­ber­ge­rin ­Ha­fi­ze Ayer ge­se­hen hat, so er­zählt sie. Auf dem grü­nen ­Ge­län­de eines Fa­mi­li­en­zen­trums in der Lüt­zow­stra­ße, par­al­lel zur Kur­fürs­ten­stra­ße, habe sie mit­er­lebt, wie Frei­er mit Pro­sti­tu­ier­ten zwi­schen He­cken ver­kehr­ten. „Hier spie­len Kin­der. Die sehen das“, sagt die 42-Jäh­ri­ge.

Straßenstrich – Zahlen & Fakten

Berlins über Landesgrenzen hinaus bekannter Straßenstrich in der Gegend um die Bülow-, Potsdamer und Kurfürstenstraße existiert seit rund 130 Jahren. 1885 wurde er erstmals erwähnt.

Durch den Straßenstrich sind die Mietpreise im Kiez bisher relativ moderat geblieben, sodass auch Familien mit geringem Einkommen hier leben können. In den letzten Jahren jedoch entdecken Immobilienfirmen das zentral gelegene Quartier für teure Bauvorhaben. Eine Folge der teils teuren Bauvorhaben könnte die Verdrängung des Straßenstrichs sein.

Auf dem Strich arbeiten rund 560 Frauen. Die meisten kommen laut Angaben der Polizei aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Manche halten sich nur zeitweilig in Berlin auf und ziehen dann wieder weiter. Andere arbeiten schon seit zehn und noch mehr Jahren auf dem Straßenstrich.

Je nach Nachfrage ist der Strich unter anderem eingeteilt in den „Transenstrich“ in der Frobenstraße, wo nur transsexuelle Frauen arbeiten, oder den „Haus­frauen­strich“ mit eher älteren Frauen in der Genthiner Straße.

In der Umgebung befinden sich billige Absteigen wie zwei Stundenhotels, wo Freier für 10 bis 15 Euro die halbe Stunde ein Zimmer mieten können. (hg)

Die Si­tua­ti­on habe sich nicht nur wegen der Bau­ak­ti­vi­tä­ten in der Ge­gend, son­dern auch durch die Ar­muts­mi­gra­ti­on ver­schlim­mert, sagt Si­byll Klotz. Seit der EU-Ost­erwei­te­rung kom­men vor allem Frau­en aus Un­garn, Ru­mä­ni­en und Bul­ga­ri­en hier­her. „Viele sind beim Wer­ben von Frei­ern of­fen­si­ver und lau­ter als alt­ein­ge­ses­se­ne Pro­sti­tu­ier­te“, stellt Chris­tia­ne Howe fest. „Das emp­fin­den viele An­woh­ner und Pas­san­ten als Be­läs­ti­gung.“

Die Be­ra­tungs­stel­le Olga, die Pro­sti­tu­ier­te im Kiez berät, ver­sucht des­halb, den Frau­en in ihren Mut­ter­spra­chen zu er­klä­ren, was hier geht und was nicht. Allzu frei­zü­gi­ge Klei­dung zum Bei­spiel ist nicht ratsam.

Den ge­samt­eu­ro­päi­schen Pro­ble­men der Ar­muts­zu­wan­de­rung könne man nicht al­lein mit Ver­bo­ten be­geg­nen, meint Cars­ten Spal­lek von der CDU. Der Stadt­rat von Mitte hält aber Sperr­zei­ten für sinn­voll. „Wir set­zen auf Auf­klä­rung – auch auf die der Frei­er.“

Den Be­zirk ganz für den Stra­ßen­strich zu sper­ren „sei zweck­los“, meint der Be­zirks­bür­ger­meis­ter von Mitte, Chris­ti­an Hanke (SPD). Der Grund dafür ist ein­fach: Seit etwa 130 Jah­ren hat sich der Stra­ßen­strich hier schon eta­bliert und ist ein­fach nicht weg­zu­krie­gen. „Au­ßer­dem ist er hier gut kon­trol­lier­bar und in Be­ra­tungs­an­ge­bo­te ein­ge­bun­den“, be­tont Hanke. An­dern­orts, wie bei­spiels­wei­se auf Ge­wer­be­ge­bie­ten an Stadt­rän­dern, wären die Frau­en der Ge­walt von Zu­häl­tern noch viel we­ni­ger kon­trol­liert aus­ge­setzt als hier, be­haup­tet der SPD-Po­li­ti­ker.

Strich soll aussterben

Große In­ves­to­ren wie die Firma La­gran­de hin­ge­gen hoffen wohl, dass der Strich, wenn erst ein­mal neue Woh­nun­gen ste­hen, „auf na­tür­li­che Weise lang­sam aus­stirbt“. Das sagt ein Mit­ar­bei­ter der Firma, der sei­nen Namen nicht in der Zei­tung lesen will. Klei­ne­re In­ves­to­ren ­hin­ge­gen lie­ßen sich „viel eher auf den Kiez und seine Kul­tur ein“, stellt Si­byll Klotz fest.

Nicht nur An­woh­ner sind be­trof­fen. Die Se­mer­kand-Mo­schee auf der Kur­fürs­ten­stra­ße hat nach ei­ge­nen An­ga­ben zu­letzt vor zwei Jah­ren eine Un­ter­schrif­ten­ak­ti­on ge­star­tet, weil Pro­sti­tu­ier­te mit ihren Frei­ern vor der Mo­schee im Hin­ter­hof ver­kehrt haben sol­len. Die Ge­mein­de der Zwölf-Apos­tel-Kir­che ver­sucht da­ge­gen, sich mit dem Strich, so gut es geht, zu ar­ran­gie­ren. Ihre Mit­glie­der ver­tei­len jeden Mitt­woch war­mes Essen, Klei­dung und sau­be­res Spritz­be­steck an Dro­gen­ab­hän­gi­ge.

„Hier spielen Kinder, die sehen das“, ­beklagt sich eine Anwohnerin

Seit Jah­ren ver­su­chen die bei­den be­trof­fe­nen Be­zir­ke Tem­pel­hof-Schö­ne­berg und Mitte das Zu­sam­men­le­ben für alle mög­lichst ver­träg­lich zu ge­stal­ten und be­zie­hen dabei An­woh­ner, Be­ra­tungs­stel­len und Ge­wer­be­trei­ben­de mit ein.

Lö­sungs­vor­schlä­ge für die Pro­ble­me im Kiez kamen auch von An­woh­nern selbst. Sie rei­chen von Boxen für den vor frem­den Bli­cken ge­schütz­ten „Voll­zug“, mehr Müll­ei­mern auf dis­po­nier­ten Plät­zen bis hin zu öf­fent­li­chen Toi­let­ten für die Pro­sti­tu­ier­ten. „Vie­len Frau­en ist es un­an­ge­nehm,“ sagt ­Mo­ni­ka Nürn­ber­ger, die Lei­te­rin von Olga, „die Not­durft ein­fach auf frei­en Flä­chen ver­rich­ten zu müs­sen.“

Viele Frau­en, die auf den Strich gehen, haben aber ganz an­de­re Sor­gen. Eine von ihnen ist So­phia. Seit neun Jah­ren geht sie an­schaf­fen. So­phia muss ihre vier Kin­der in Lett­land ver­sor­gen. Je nach Dienst­leis­tung nehme sie 20 bis 30 Euro pro Frei­er. Wenn es gut läuft, hätte sie zehn am Tag. Das Geld rei­che dann ge­ra­de mal zum Leben in Ber­lin. Nur alle zwei bis drei Mo­na­te könne sie Geld an ihre Fa­mi­lie über­wei­sen.

Für den Unmut vie­ler An­woh­ner hat die 29-Jäh­ri­ge Ver­ständ­nis. Wenn mög­lich, ver­mei­de sie Sex auf öf­fent­li­chen Plät­zen, denn das sei in vie­lerlei Hin­sicht zu ris­kant. Au­ßer­dem sei die Si­tua­ti­on auf dem Strich „schlim­mer ge­wor­den“, sagt So­phia. Die Frau­en wür­den un­ter­ein­an­der um Steh­plät­ze kämp­fen. Und hinzu kämen Frei­er, die die Prei­se immer wei­ter drü­cken woll­ten.

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