: Die andere Normalität
INKLUSION Rainer Schmidt ist Pfarrer, Buchautor, Goldmedaillengewinner im Tischtennis bei den Paralympischen Spielen, Moderator und Kabarettist. Er lebt ohne Unterarme und mit verkürztem Bein – und das, sagt er, sehr gut
VON JANNIK DETERS
Es war die Frage nach Gott: „Stimmt das alles, kann ich das glauben, wer hat recht?“ Das habe Rainer Schmidt bewogen, mit 26 Jahren alles stehen und liegen zu lassen: die Verlobte, das Beamtentum, die sichere Zukunft. Stattdessen fing er an, Theologie zu studieren. Evangelische.
Jetzt, 21 Jahre später, ist Rainer Schmidt ein gefragter Mann. Er ist Pfarrer, er hält Vorträge, er schreibt Bücher. Er moderiert. Seine sportliche Karriere kommt zudem zum Tragen: Nach sieben Teilnahmen als Tischtennisspieler an Paralympischen Spielen moderierte er in diesem Sommer in London bei den Paralympics zum ersten Mal die Abende im Deutschen Haus.
Schmidt fehlen beide Unterarme, sein rechtes Bein ist verkürzt, er trägt eine Prothese, die das Bein versteift.
Auto fahren
Im Auto, auf dem Weg nach Bonn, wo er wohnt, hat Schmidt Zeit zu erzählen. Gerade hat der 47-Jährige in Mülheim an der Ruhr vor LehrerInnen einen Vortrag zu Inklusion gehalten. Er wolle den Leuten die Angst vor dem Unbekannten nehmen. „Sie wissen nicht, wie das Leben im Rollstuhl ist, das Leben mit Downsyndrom, wie das Leben mit kurzen Armen geht.“ Schmidt weiß es und ist darüber hinausgewachsen, er hat sich nicht versteckt, hat sich gezeigt, hat um Erfolge, um Anerkennung gerungen. Trotz Behinderung. Er ist viel herumgekommen. Seit 1984 war er bei allen Paralympischen Spielen dabei. Im Tischtennis gewann er sieben Medaillen, darunter vier goldene.
Jetzt steht Schmidt auf der A 59 im Stau. Und so einfach, wie es klingt, war es dann doch nicht, einen positiven Zugang zu seiner Behinderung zu finden. Als er jung war, haderte er, verglich sich mit seinem jüngeren Bruder, der lange Arme hat und ohne Beinprothese Fußball spielen konnte.
Am Steuer von Schmidts Wagen ist eine Schiene eingehakt. In dieser steckt der Ansatz seines linken Arms, so kann er fahren. Mit rechts kann er auf einer speziellen Bedienung, die zwischen den beiden Vordersitzen angebracht ist, den Blinker setzen, das Licht anmachen, hupen.
In London, erzählt Schmidt, den Blick auf die Straße gerichtet, habe er ein Interview mit den Präsidenten der Paralympischen Komitees von Afghanistan, Burkina Faso und Israel geführt. Die habe er gefragt: „Wie habt ihr den Kopf frei, um Sport zu treiben? Ihr lebt im Bürgerkrieg, die Taliban oder die eigene Regierung schießen euch den Arsch ab.“ Und dann die Antwort: „Wir wollen auch mal lustig sein und Bier trinken.“
Tischtennis spielen
Dieses Ringen um Normalität habe ihn beeindruckt, sagt Schmidt. Die Qualität einer Gesellschaft hänge auch damit zusammen, ob man Theater spielen kann, ob Literatur geschrieben wird, ob die Menschen spielen und ausgelassen sein können. Und Schmidt weiß, dass es für ihn gut ist, in Deutschland zu leben, weil man es hier kann. Ausgrenzung finde in vielen anderen Ländern deutlich stärker statt. „Paulus sagt, der Fuß ist genauso wichtig wie das Auge. Alle Menschen haben ein Charisma. Einige haben die Begabung zu geben, andere die Begabung zu nehmen.“
Noch dreißig Kilometer bis Bonn. Dort lebt er, dort arbeitet er am Pädagogisch-Theologischen Institut. „Auch Kirche ist rein soziologisch gesehen ein ziemlich homogener Trupp“, sagt Schmidt. Heterogenität als Chance für die Kirche, das will er schaffen – und sich dabei nicht über seine Behinderung definieren lassen. „Warum soll ich meinen Behindertenausweis ernst nehmen, wo drinsteht, dass ich 100 Prozent erwerbsgemindert bin?“ Schmidt sieht das so: „Ich beschäftige mich mit meinen Fähigkeiten. Nicht mit dem, was ich nicht kann.“ Diese Erkenntnis will er weitergeben: „Bei Kindern sollten erst mal die Talente gestärkt werden. Dann können sie sich selbst ihren Einschränkungen besser stellen.“
Schöne Sätze sind das. Er will sich nicht beklagen. Aber dann gibt es doch auch bei ihm diese Leerstellen: dass er kein Instrument spielen kann, nicht Wasserski fahren kann, und ja, auch die Einsamkeit. Die überkomme ihn manchmal schon. So schön die Auftritte und der Applaus sein mögen, „abends sitze ich oft alleine irgendwo in der Kneipe, esse eine Pizza und trinke ein Bier“.
Er hatte mal eine Freundin. Drei Jahre lang. In China war das. Dort hat er sie auch besucht. Mit einer Mitbewohnerin teilte sie sich ein Zimmer von zwölf Quadratmetern. Der Flur, über den Schmidt nachts im kalten Winter auf die Gemeinschaftstoilette gehen musste, war unbeheizt.
Schmidt ist in Bonn angekommen, in Bad Godesberg. Eine ruhige Gegend. Seine Wohnung ist im Erdgeschoss. Zu seiner Arbeit ist es nicht weit. Bevor er um halb acht zum Singen will, lädt er zum Abendbrot ein. Mithilfe des Mundes steckt er den Schlüssel ins Türschloss. Jahrelange Übung. Ganz normal. Er ist erst zwei Tage aus London zurück, ein Haufen ungelesener Briefe stapelt sich.
An der Wand zwischen Küche und Wohnzimmer hängt ein Bild von ihm beim Tischtennisspielen. Das ZDF hat es ihm 2004 nach seinem Besuch im „Aktuellen Sportstudio“ geschenkt. Damals gewann er bei den Paralympics in Athen Silber im Einzel, Gold im Doppel. „Es gibt keinen Sportler, der Sport macht, weil er etwas in der Gesellschaft bewirken kann“, sagt Schmidt. „Erfolg ist wichtiger, als ich es lange wahrhaben wollte.“ Dennoch sei der Sport eine höchst ethische Sache. Warum? „Ich messe mich mit meinem Gegner und gehe das Risiko ein, der Verlierer zu sein.“
Handstand machen
Jochen Wollmert, langjähriger Weggefährte, mit dem Schmidt in den Jahren 2000 und 2004 gemeinsam Gold gewann, beschreibt seinen ehemaligen Spielpartner als zielstrebig und ehrgeizig. „Seine Macke ist, dass er sich wenig meldet bei Freunden von früher.“ Schmidt hat drei verschiedene Mailadressen. Eine für Privates, eine für die Arbeit und eine für den Sport. „Mein Privatleben vernachlässige ich immer wieder. Aber es gibt auch Leute, die mich vernachlässigen“, sagt der 47-Jährige.
Zwei Tage später, an einem Freitagabend, ist Schmidt in Sögel im Emsland als Kabarettist gebucht. Und spät dran. Sein Navigator hat ihn zweimal in die Irre geführt. Seinen Anziehstab, den er beim Ankleiden braucht, hat er im Hotel auch vergessen. Alles kostet Zeit, die jetzt fehlt. „Dann gibt’s eben einen Witz weniger“, sagt er.
Rainer Schmidts Ausgangspunkt für seine Pointen ist sein eigenes Anderssein. Bei ihm wird Selbstironie zu Humor – einem bittersüßen. „Als meine Oma mich zum ersten Mal sah, hat sie gesagt: ,Also Handwerker wird der nicht.‘ “
„Was kann ich nicht?“, fragt Schmidt das Publikum. Jemand ruft: „Handstand!“ Schmidt entgegnet: „Wer kann hier im Saal noch keinen Handstand?“ Die Hälfte der Leute meldet sich. Die Botschaft kommt an.
Nach der Veranstaltung begrüßt Rainer Schmidt einen Bekannten. Auch er hat kurze Arme. Sie umarmen sich, reden miteinander. Da ist sie also, die andere Normalität. Die meinte Schmidt auch mit seiner Schlusspointe: Er erzählte, wie ein kleines Mädchen ihn staunend betrachtete und seine Mutter dann fragte: „Mama, warum haben wir beide eigentlich Arme?“
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