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Angstgegner Falls Deutschland im Viertelfinale gegen Italien verliert, liegt das nicht an einem Fluch. Antonio Contes Team ist eben auch gutDer Star ist der Trainer

Conte hat ein Team zusammengeschweißt, das mehr sein soll, als Nationalmannschaften normalerweise sind

Von Peter Unfried

Wenn sie es nicht schon längst getan haben, dann werden sich spätestens seit dem furiosen 2:0 im Achtelfinale gegen Titelverteidiger Spanien auch die dafür offenen Bundesligatrainer mit dem Fußballstil der italienischen Nationalmannschaft beschäftigen.

Denn falls die Deutschen an diesem Samstag im EM-Viertelfinale ausscheiden sollten, so liegt das nicht an irgendeinem Fluch, weswegen man immer verliert. Wie Mats Hummels sagte: „Ich weiß nicht, was ich darüber sagen könnte, wenn eine Mannschaft in den 80ern oder so verloren hat.“ Nein, falls sie verlieren, so liegt es schlicht daran, dass die Italiener wirklich gut sind. Diesmal.

Was machen sie denn groß, könnte jetzt der Superchecker fragen. Sie spielen einen sehr taktischen und defensivorientierten Fußball. Wie das Italie­ner halt tun. Und manchmal greifen sie an. Das gab es früher auch schon.

Das stimmt, einerseits, wäre die Antwort. Andererseits schlägt in der europäischen Fußballmoderne jeder Versuch fehl, Erfolge mit angeblichen nationalen Tugenden oder Stilen zu begründen. Das beste Beispiel dafür ist der deutsche Fußball, der seine schönste und beste Zeit erlebt, seit Joachim Löw den abergläubischen Quatsch von den Natio­naltugenden ad absurdum geführt hat – und das längst nicht nur auf dem Spielfeld.

Allerdings gibt es in der Tat ein einziges Spiel in dieser Dekade, das richtig schiefging, und das war das EM-Halbfinale von Warschau gegen Italien. Da wird seither ein großes Gewese drum gemacht, dass Löw sich da strategisch verzockt habe. Aber man muss sich auch mal verzocken, sonst gewinnt man nie etwas, weil man nichts dafür riskiert hat.

Was Antonio Conte angeht, so kam er zu dem Job, weil Italien bei der Weltmeisterschaft 2014 auch sichtbar bankrottgegangen war. Ein Süditaliener, der nur zum Rand des Fußball­establishments gehörte. Bei der WM 1994 und EM 2000 war er Ergänzungsspieler, als Italien jeweils ins Finale kam. Als Trainer diente er sich in Bari, Bergamo und Siena hoch, bis er 2011 von Juve gerufen und dreimal in Folge Meister wurde.

Wenn der Begriff „exaltiert“ mal angemessen ist, dann bei Conte, 46. „Was dich niemals betrügt, ist harte Arbeit.“ Das ist eine der Lieblingsblumen seines rhetorischen Straußes. Keiner predigt die Bescheidenheit und die einfache Arbeit mit solchen Superlativen wie er. Zum Dienstantritt hat er einen Paradigmenwechsel ausgerufen, der gerade auch in der politischen Analogie fasziniert: Er besteht in der einstweiligen Verzwergung Italiens, das in der Selbstwahrnehmung vorher immer als Riese daherkam. „Dies ist nicht die rosigste Zeit, in der wir überragende Fußballtalente haben“, sagte er. Gerade auch angesichts des dramatischen Abstiegs der Serie A war das durchaus angemessen. Deren Attraktivität auf Zuschauer und Märkte hat stark nachgelassen und im internationalen Vergleich ist nur noch Juventus Turin erste Klasse. AS Rom hat nur Achtelfinal­potenzial, und die Mailänder Clubs sind seit einigen Jahren jenseits der Champions League.

Es geht bei Conte nicht mehr um die Frage, wer wir mal waren – viermal Weltmeister, einmal Europameister. Es geht um die Frage, wer wir sind und was wir daraus machen.

Die prioritäre Frage ist ja immer, wie die kollektive Psyche mit dem Schock der Realität umgeht. Es ist jedenfalls die einzige Möglichkeit, wirklich aufbrechen zu können: wenn man mit dem bricht, was nicht mehr ist. Statt es zu beschwören, wie das die Deutschen bis Jürgen Klinsmann taten. Und wie es die Engländer auch beim Fußball tun. Sie denken immer noch, der singuläre WM-Titel von 1966 sei der Rule-Britannia-Normalzustand. Man will etwas sein, statt etwas werden zu wollen. Die Folge: 50 Jahre Selbstmitleid und Lähmung.

Conte hat den Schock der Realität sogar noch verstärkt, was zur Folge hat, dass er nun selbst ein Viertelfinalaus als Aufstiegsgeschichte zeichnen kann. Zumindest wird er das versuchen.

Manche vergleichen ihn mit Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid. Tatsächlich sucht auch er auf grenzwertige Art in der Coaching-Zone den maximalen Einfluss auf das Spiel und dessen interagierende Systeme, also eigenes Team, Gegner, Schiedsrichter, Zuschauer.

Dann hat er ein flach hierarchisches Team zusammengeschweißt, das mehr sein soll, als die Zeitbudgets von dauergestressten Spitzenfußballern normalerweise in Nationalmannschaften hergeben. „Wir können nicht als Ansammlung von Spielern reüssieren“, sagte Conte. „Wir müssen wie ein Club sein.“

Das meint nicht nur den Spirit, das meint auch die mittlerweile zweijährige Entwicklung der Automatismen des Spiels über eine ordentliche Defensive hinaus. Wie Atlético verteidigt Italien eben nicht nur, sondern hat eine Reihe von Varianten und Aggregatzuständen, wie Spanien und Belgien leidvoll erfahren mussten.

Manchmal verteidigen sie tief, manchmal pressen sie hoch. In Wahrheit haben sie hinten nicht nur die drei Turiner Recken Bonucci, Barzagli und Chiellini („The good, the bad and the ugly“, wie die Franzosen sagen), sondern eine Fünferkette, deren Außen Florenzi und De Sciglio dem Spiel mit Ball extreme Breite und Tiefe geben können. Gegen Spanien schafften sie es, Raumverdichtung (ohne Ball) und Öffnen von Räumen (mit Ball) phasenweise ideal zusammenzubringen und immer genug Spieler in Ballnähe zu haben, ohne sich zu entblößen oder die Kontrolle zu verlieren. Vorne haben sie für Tempokonter den eingebürgerten Ex-Brasilianer Eder und fürs Toreschießen Pellè – bisher 2 Tore –, auch sie keine Stars, sondern engagierte Mitarbeiter. Der Star ist der Trainer.

Es wäre genauso wie bei Simeone auch bei Conte zu kurz gegriffen, ihren Fußball als radikales Gegenmodell zu Löws oder del Bosques Ballbesitzspiel zu verstehen. Alles sind Modelle der fußballerischen Postmoderne, die sich durch ihre Variabilität auszeichnen. Italien hatte Phasen gegen Spanien, in denen der Ballbesitz ausgeglichen war und Phase fast ohne Ball. Man kann aber Fußball, der im Ansatz Kontrolle durch Ballbesitz anstrebt, als Oben-Fußball bezeichnen, weil er tendenziell von den Reicheren gespielt wird. Und Fußball, der Kontrolle ohne Ballbesitz anstrebt, als Unten-Fußball, weil er von denen mit weniger Geld und individueller Klasse gespielt wird.

Das Neue besteht darin, dass sich nicht nur Ingolstadt und Darmstadt, sondern inzwischen auch Teams, die eher „oben“ sind, qua freier Wahl für Unten-Fußball entscheiden. Weil „unten“ eben auch die Modernitätsidee ihrer Trainer ist. Weil sie daraus und aus einem Solidaritätsprinzip das zusätzlich energetische Momentum generieren, das ihnen die Wucht und auch die Wut gibt, um am Ende oben zu sein. So verhält es sich auch bei Conte.

Es ist eine Wut, die Joachim Löw und auch Vicente del Bosque fremd zu sein scheint.Niemals würden die in der Coaching-Zone einen Ball wegschlagen, wie Antonio Conte es im Stade de France tat, um seinen Vorsprung über die Zeit zu bringen. Das kann man als Manko sehen oder als das Großartige an Löw: dass er Fußball als Spiel versteht und eben nicht als Imitation einer gnadenlosen Realität.

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