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Sag bloß!

BERLIN An jeder Ecke lauern Unwahrheiten. Auf der Suche nach der Lüge in der Stadt – am Tag und in der Nacht. Sechs Begebenheiten

Die Teilnehmer*innen des 21.Panter-Workshops Foto: Anja Weber

Die Lehrerin: Die letzte Stunde ist vorbei, es klingelt an der Liebmann-Grundschule in Kreuzberg. Die Kinder stürmen aus dem Klassenzimmer. Gefühlt sind es 40 Grad. Sie spritzen sich gegenseitig mit ihren Wasserflaschen nass. „Ich war das nicht“, ist die häufigste Antwort, die Lehrerin Meyer, 48, zu hören kriegt. Selbst wenn die Lüge offensichtlich ist und die Kinder wissen, dass sie es mit eigenen Augen gesehen hat. „Kinder lügen oft aus Reflex“, sagt sie.

Die Gläubige:Vier junge Menschen stehen lächelnd in der Unterführung der S-Bahn Friedrichstraße. „Free bible?“ sprechen sie die Passanten auf Englisch und Deutsch an. Ein blaues Banner verrät, dass sie Mitglieder von Lebensstrom e.V. sind, einer evangelikalen Sekte aus den USA. „Du sollst nicht lügen“ lautet eins der zehn Gebote, sind Christen also besonders ehrlich? Die 29-jährige Studentin Marilyn hält selbst die kleinsten Lügen im Alltag für ungerechtfertigt. „Ich weiß schon alles über die Bibel“, lautet einer der Sprüche, mit denen ihr Menschen versuchen, aus dem Weg zu gehen. Darauf reagiert sie geschickt und fragt: „Wollen wir gemeinsam deinen Lieblingspsalm beten?“ Meist schweigen die Betroffenen dann verlegen. Marilyns Abschiedsgeschenk: eine Bibel. Im Tausch gegen die Kontaktdaten.

Der Versicherungsmakler: Mit Lügen hat er täglich zu tun. „Ich sehe mich als Brücke zwischen Kunden und Firma“, sagt der Mann, der anonym bleiben will. Lügen verstößt gegen sein Berufsethos. „Man muss nicht lügen, um ein guter Verkäufer zu sein.“ Einmal hat ein Kunde versucht, ihm eine Lüge anzuhängen, indem er behauptete, seine Vollkaskoversicherung sei ohne seine Zustimmung gekündigt worden. Vertrauen braucht es auf beiden Seiten.

Die Studentinnen: Drei kurzhaarige Frauen sitzen vor dem Campus Mitte der Humboldt-Uni und rauchen. Sie studieren Gender Studies, ihren Lektürestapel haben sie zur Seite gelegt. Lernpause. Wird an der Uni viel gelogen? „Immer heißt es, die Uni hat keine Mittel, um etwas zu verändern.“ Eine Lüge, meinen sie und wirken genervt. Auch linke KommilitonInnen lügen. „Wir sind keine Rassisten, aber…“, ist ein Satz, der häufig in diesen Kreisen fällt. „Was ist überhaupt eine Lüge?“ fragt eine, die bis jetzt geschwiegen hat. Sie geraten in eine Diskussion. Ein älterer Mann spaziert zufällig vorbei. Er stellt sich als Richter und Ministerialbeamter vor, kurz vor der Rente. Er ist überzeugt, Lügen sind unabdingbar. „Leute, die die Wahrheit sagen, können nicht überstehen. Das Leben selbst ist ein Hirngespinst.“

Die Verkehrsbetriebe:Mit Lügen will die BVG nicht in Verbindung gebracht werden. Mit Kontrolleuren auf Tour gehen? „Derzeit nicht möglich“, sagt die Pressestelle, die die Mitarbeiter angeblich vor der Presse schützen will. „Wir können Ihnen aber die häufigsten Ausreden per Mail zukommen lassen“, als da wären: „Andere Jacke an, andere Tasche mit.“ – „Mein Hund hat mein Ticket gefressen.“ – „Ich muss dringend ins Krankenhaus, meine Frau ist schwanger“.

Die Nachtschwärmer: Würden wir nachts schlafen, wäre die Nacht eine lügenfreie Zeit. Jedenfalls ist Kreuzberg um Mitternacht hellwach. Touristen strömen in Richtung Klubmeile Schlesische Straße. „Eintritt 10 Euro“ sagt der große Mann an der Tür und guckt ernst. Ihn möchte man lieber nicht anlügen. „Mein Bruder liegt drinnen verletzt.“ Ständig hört er neue Stories. „Ich lege heute bei euch auf“, versuchen die Abgewiesenen weiter ihr Glück. Die Bar um die Ecke ist überfüllt. Angetrunkene Gäste sind erfinderisch, erzählt die Barkeeperin. „Manche behaupten, hier zu arbeiten, um hinter den Tresen zu gelangen. Andere meinen, sie hätten Geburtstag und würden gerne aufs Haus trinken. Den Ausweis haben sie meist zu Hause liegen lassen.“

Katja Blazheichuk, Evangelia Kokinaki, Jelena Tomovic

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