Neben der Landebahn des Flughafens befindet sich ein Waldgebiet mit bizarren Birken und verlorenen Reihenhäusern: Im Niemandsland
AM RAND
Klaus Irler
Die Stadtgrenze habe ich gesucht, aber ich habe sie nicht gefunden. Du gehst über die Bundesstraße 433 nach Norden Richtung Norderstedt und weißt: Hier ist noch Hamburg. Du biegst rechts ab Richtung Pferdekoppel und weißt: Hier ist noch Hamburg. Du siehst Wiesen, Entwässerungskanäle, Feldwege und weißt nicht, wo es zu Ende ist mit der Stadt. Du brauchst die Landkarte im Internet, um herauszufinden: Die Grenze markiert ein Weg namens „Moordamm“, auch wenn dahinter noch der „Verein der Hundefreunde Hamburg“ kommt.
Drüben in Schleswig-Holstein fällen sie Holz und leben in Häusern, die mitten im Wald stehen. Meist stehen vier, fünf davon beieinander, dann kommt wieder Wald, dann die nächste Kleinsiedlung. Eine davon ist eine klassische Reihenhauszeile mit fünf Parteien. Ich laufe immer daran vorbei und frage mich, ob das nicht gruselig ist, in einem Reihenhaus mitten im Wald zu leben. Du bist an die Nachbarn gekettet. Du hockst aufeinander. Die nächste Stadt ist weit entfernt.
Vielleicht ist das der Grund, dass vor einem der Eingänge eine Zinkwanne steht, in der ein Plastikskelett liegt. Das Skelett trägt Sonnenbrille, soll also nicht nur gruselig sein, sondern auch lustig. Einen ähnlichen Humor habe ich bislang nur in Beatty erlebt, das ist ein Kaff am Eingang des Death Valley in der Mojave-Wüste: Die Leute dort bauten Außerirdische aus Schrott und stellten sie in ihre Vorgärten. Als Hinweis darauf, dass es hinter Beatty mit der menschlichen Zivilisation vorbei sei.
Die Häuser in der hiesigen Waldsiedlung sehen meist nach 50er-Jahre-Architektur aus und sind tendenziell unrenoviert. Sie stehen an unbefestigten Wegen und ich frage mich, ob der Postbote da hin findet. Ich vermute, er kommt nur einmal die Woche, im Winter alle zwei Wochen. Die Leute legen dann Holzscheite in den Ofen und trinken mit dem Postboten Schnaps. „Ist was passiert in der Stadt?“ – „Nein, nicht dass ich wüsste.“ – „Der HSV?“ – „Willste nicht wissen.“
Einer der Wege führt ins Ohmoor. Als wollte die Natur wettmachen, was der Mensch an schlechten Vibes verbreitet, stehen da bizarr geformte Birken in einer glitzernden Sumpflandschaft, märchenhaft schön.
Das Ohmoor ist ein Naturschutzgebiet. Du kommst aus dem Schauen nicht heraus, aber Du läufst nicht lange, bis Du an eine Mega-Lichtung kommst: Das ist die Landebahn des Hamburger Flughafens, an manchen Tagen verwaist, an anderen Einflugschneise im Minutentakt.
Ich weiß nicht, was es mit den Leuten in der Waldsiedlung macht, wenn die Flugzeug-Tage kommen. Es donnert und stinkt nach Kerosin. Die Flugzeuge steigen hoch ins Weite, während unten auf der Erde das Dickicht wuchert. Oder sie landen, dann riecht es nach verbranntem Gummi.
Wäre da nicht das bezaubernde Moor, dann wäre das Gebiet neben der Landebahn, stadtsoziologisch betrachtet, ein Unort. So aber ist es ein Niemandsland zwischen schön und gruselig, zwischen Hamburg und Norderstedt. Ein Dazwischen, das offen ist für die Interpretation desjenigen, der durchspaziert.
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