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VerbrechensaufklärungFolgenschwere Verzögerung

Ein Kindergarten und das Jugendamt Bremen machen sich Sorgen um das Leben einer zweifachen Mutter. Ernst genommen werden sie von der Polizei viel zu spät.

Als die Polizei ihn suchte, war der Verdächtige längst ausgeflogen. Foto: Daniel Reinhardt

BREMEN taz | Das zögerliche Handeln der Polizei im Falle eines Tötungsdelikts im März 2015 erscheint noch unerklärlicher als bisher angenommen. Denn nicht nur – wie bisher berichtet – hatte das Bremer Jugendamt die Polizei alarmiert, weil eine Mitarbeiterin um das Leben einer zweifachen Mutter fürchtete, nachdem diese weder persönlich noch telefonisch zu erreichen war.

Auch der Kindergarten ihres damals fünfjährigen Sohnes hatte sich an die Polizei gewandt. Dass das Kind vom Vater wegen eines angeblichen Besuchs beim Kinderarzt abgemeldet worden war, erschien den Erzieherinnen merkwürdig, weil der autistische Junge bei der Mutter lebte und der Vater mit dem Kindergarten nichts zu tun hatte.

Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft bestätigte jetzt einen Anruf des Kindergartens beim Notruf am 19. März. Dass sich der Kindergarten bereits am 17. März – einen Tag nach der Krankmeldung durch den Vater – an die Polizei gewandt hatte, gehe aus den Akten nicht hervor, sagte der Sprecher. Gewiss ist, dass die Leiterin des Kindergartens an diesem Tag dem Amt für soziale Dienste ihre Befürchtung mitgeteilt hat, der Mutter könne etwas passiert sein. Das bestätigt Bernd Schneider, Sprecher der Sozialbehörde. Der Kindergarten selbst will sich nicht zu der Sache äußern, weil die Betroffenheit bei Eltern, Kindern und Erzieherinnen dafür noch zu groß sei, schreibt eine Mitarbeiterin in einer Mail.

Die Chronologie der schleppenden Ermittlungen

13. März 2015: Gespräch der Eltern im Jugendamt über Sorgerechtsstreitigkeiten.

14./15. März: Die Mutter wird das letzte Mal lebend gesehen.

16. März: Der Vater meldet den Sohn im Kindergarten ab. Später stellt sich heraus, dass er an diesem Tag mit beiden Kindern in die Türkei geflogen ist.

17. März: Nachdem sie die Mutter zwei Tage telefonisch nicht erreichen kann, alarmiert die Leiterin des Kindergartens zum ersten Mal das Amt für soziale Dienste – und vermutlich auch die Polizei.

18. März: Eine Mitarbeiterin des Jugendamts ruft nach Rücksprache mit dem Familiengericht die Polizei an. Das Jugendamt versucht erfolglos, am Telefon oder vor Ort die getrennt lebenden Eltern zu erreichen.

19. März: Anruf des Kindergartens bei der Polizei und erneuter Anruf des Jugendamts bei der Polizei. Ein Polizist sucht daraufhin die Wohnung auf und trifft eine Frau, die die Mutter am 14. oder 15. März gesehen haben will. Der Briefkasten fällt als ungeleert auf. Die Polizei rät dennoch zur Vermisstenanzeige nach dem Wochenende, am 23. März, wenn bis dahin niemand erreicht werden konnte.

23. März: Die Polizei bricht die Wohnungstür auf und findet die tote Mutter.

25. März: Auf einer Pressekonferenz sagt die Polizei, es habe am 19. März „keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen“ gegeben.

Das Amt für soziale Dienste teilte die Sorge des Kindergartens. Auch das zu Rate gezogene Familiengericht hielt es für angemessen, die Polizei zu alarmieren. Die Familie war den Behörden bekannt. Unter anderem hatte sich der Vater, bei dem die jüngere Schwester des Jungen lebte, seiner Ehefrau und deren Wohnung Ende 2014 ein halbes Jahr nicht nähern dürfen, weil er seine Frau geschlagen hatte.

Dennoch hatte die Polizei nach den Anrufen vom Sozialamt und dem Kindergarten zunächst „keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen“, wie sie auf einer Pressekonferenz sagte. „Es ist ja denkbar, dass jemand einfach im Urlaub ist, da kann man nicht jedes Mal die Tür aufbrechen, nur weil jemand ein paar Tage nicht ans Telefon geht und der Briefkasten nicht geleert wird“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Frank Passade.

Die Polizei habe dazu geraten, erst am 23. März nach dem Wochenende eine Vermisstenanzeige zu stellen, erklärt dazu der Sprecher der Sozialbehörde.

Ausgerechnet an diesem Tag, so stellt es die Staatsanwaltschaft dar, sei erst die Einschätzung vom Anwalt der Mutter und vom Kinderarzt bekannt geworden. „Diese trauten dem Vater zu, die Mutter bis zum Tode zu misshandeln.“

Am 23. März wurde die Frau stranguliert in ihrer Wohnung aufgefunden. Der dringend tatverdächtige Vater reiste am 16. März mit beiden Kindern in die Türkei aus. Von ihm fehlt jede Spur, er wird im Irak vermutet. Selbst wenn die Polizei früher reagiert hätte, hätte er nicht gefasst werden könne, sagt Passade. „Für das Ermittlungsverfahren ist das vollkommen irrelevant.“

Der Sprecher der Sozialbehörde will ebenfalls kein Versagen erkennen. Er sagt, das Amt habe sich auf die „fachliche Einschätzung“ der Polizei verlassen. Gleichzeitig sagt Schneider aber auch: „Rückblickend wäre es wünschenswert gewesen, wenn unsere fachlichen Bedenken stärker ins Gewicht gefallen wären.“

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