Flanieren Vor 40 Jahren starb Ulrike Meinhof; beerdigt ist sie auf einem abgelegenen Friedhof in Berlin. Am Todestag schaute sich unsere Autorin dort um. Sie stieß auf ein Gedicht, Vogelnistkästen und Friedhofsgängerinnen, die die Terroristin jetzt duzen: Länger war sie nirgendwo
von Renée Zucker
Sehn Se den dicken Mann da? Und dann rechts die große Tanne? Da liegt Ulrike.“ Der Steinmetzmeister aus dem Laden „Das besondere Grabmal“ auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Berlin dürfte höchstens fünf Jahre vor Ulrike Meinhofs Tod in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1976 geboren sein. Aber wer täglich mit Toten zu tun hat, entwickelt sicherlich ein Duzverhältnis zu ihnen.
Cemal Kemal Altun kannte der Steinmetz allerdings nicht. Dabei war dessen Tod, sieben Jahre nachdem „Ulrike“ sich erhängt hatte, mindestens so spektakulär. Der 23-jährige, türkische Asylbewerber sprang aus dem sechsten Stock des Verwaltungsgerichts an der Hardenbergstraße. Dort sollte über seine Abschiebung an die türkische Militärregierung entschieden werden. Da war der politische Aktivist schon über ein Jahr unter verschärften Bedingungen im Gefängnis gewesen. Cemal Kemal Altun hatte keine Kraft und keine Hoffnung mehr. Er stürzte sich aus 25 Meter Höhe in den Tod. Und obwohl Filme und Lieder über ihn gemacht wurden und es bundesweit drei Mahnmale gibt, kannte der Steinmetz mit dem guten Verhältnis zu Ulrike, die Ruhestätte von Altun auf dem Friedhof nicht. Sie ist allerdings auch weiter weg vom „besonderen Grabmal“ und liegt in dem parkähnlichen Teil des Dreifaltigkeitsfriedhof III, wo heute niemand mehr bestattet wird. Was aus dem Gelände und den Gräbern wird, weiß auch die Friedhofsverwaltung nicht so genau.
Es gibt keinen Bedarf mehr an Grabstellen, alle wollen Urnen. Um sie mit nach Hause zu nehmen, ins Meer zu entleeren, oder auch auf dem Friedhof zu deponieren. Die günstigste Urnenbestattung kostet 829 Euro – kann aber bis 1.800 gehen, je nachdem, was man dazuhaben möchte. Eine Erdbestattungsstelle fängt bei 3.000 Euro an. Mit Feier natürlich. Ohne Stein.
Ulrike Meinhof hat, überraschend, eine relativ gepflegte, großzügige Grabstätte. Vermutlich weit über 3.000 Euro. Spendengelder.
Eingefasst von dunkelgrauem ungeschliffenen Granit, am Kopfende eine Platte mit ihrem Namen, Geburts- und Todesdatum, darüber ein nahezu blattloser, zarter Rhododendron – der bei Temperaturen wie in diesem Jahr an ihrem Todesdatum in prächtig roter Blüte steht.
Ein Freund, ein Bewunderer, ein Trauernder – ja, es muss ein Mann gewesen sein – war schon da und hat mit Filzstift auf zwei Nesselbahnen, die wie Kranzschleifen ausgebreitet sind, geschrieben:
40 Jahre ist es nun her. / Du solltest uns verlassen, / aus heiterem Himmel / unerwartet und kaum zu fassen. / Möcht wir dich noch immer / nicht einfach gehen lassen.
40 Jahre sind ins Land gezogen. / Trauer, Unfassbarkeit und Sehnsucht / begleiten uns seither / und dann diese Leere / die uns immer wieder heimsucht, / belastet uns wirklich sehr.
Und dann sind da noch Wut / Ohnmacht und Triebfedern / die da enthalt sind in diesem Trauern. / Es scheint nicht zu verblassen, / unmöglich los zu lassen. / Es ist ersichtlich: / Wir vermissen dich.
Revolutionspoesie hat gegenüber Revolutionsprosa keinerlei Vorteile. – Und die Schreibfehler bieten kaum Trost.
Frische Sträuße von Rosen, Löwenmäulchen und Nelken in grünen Grabvasen aus Plastik, ein japanischer Ahorn, verwelkte Narzissen und ein paar Plastikfigürchen stehen auf dem Grab. Die Toten können sich nicht wehren. Auch nicht die Terroristin, nach der anfangs eine „Bande“ benannt war, so verspielt, als hätte sie Postkutschen überfallen. Später sagte man „Gruppe“, bis diese Gruppe sich selbst den militärischen Titel „Rote Armee Fraktion“ verlieh.
In diesem Herbst würde Ulrike Meinhof 82 Jahre werden und gälte nun als Frau höheren Alters. Würde sie hie und da noch Artikel schreiben wie Gräfin Dönhoff? Die einst, wie tazler Stefan Reinecke in seinem Ströbele-Buch schreibt, gesagt haben soll, wenn Ulrike Meinhof an ihre Tür klopfte, würde sie nicht die Polizei rufen, sondern ihr Geld geben und sie weiterschicken. Schließlich gehörte man zur gleichen Klientel.
Wäre Meinhof, so sie noch lebte, eine demente, glückliche Kuchenesserin? Wofür würde sie sich interessieren? Untergang der SPD, re:publica oder die „Flüchtlingskrise“? Oder reichte ihr nach den aufregenden mittleren Jahren ein angenehmer Ruhestand bei der Schili (Schicke Linke) auf Sylt?
Einer, der hin und wieder mit ihr zu tun hatte, sagt, sie sei selbst zu ihren besten Zeiten als linke Vorzeigejournalistin eine überschätzte Autorin und hysterische Ziege gewesen. Weil er nicht mit nach Sylt wollte, um das Haus ihres mittlerweile verhassten Ehemannes und Konkret-Verlegers Klaus Rainer Röhl zu demolieren, schwor sie ihm ewige Feindschaft. Eine Lektorin, die sich später mit ihren Texten beschäftigte, war fassungslos angesichts von Meinhofs wirren und paranoiden Briefen aus dem Gefängnis. Vielleicht Folgen einer Tumoroperation in den 60er Jahren, wurde spekuliert. Das Gehirn von Ulrike Meinhof lagerte jahrelang zu Forschungszwecken in Formalin. Erst 2002 wurde es ihrem Grab hinzugefügt.
In dem bedrückenden Buch „Stammheim“ von Kurt Oesterle, das die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Buback erzählt, wird sie als die einzige Stammheim-Insassin beschrieben, die ab und zu handgreiflich wurde gegen das Personal, das sie nur duzte und mit „Arschloch“ ansprach. Dies entsprach durchaus dem Gruppendenken, und in einem Zitat aus einer Tonband-Abschrift im Spiegel klingt das so: „Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“
Zwei Frauen in pastellfarbenen 7/8-Hosen und mit grünen Friedhofsgießkannen bewehrt, kommen angeschlendert. Sie sehen nicht aus wie Verehrerinnen, auch nicht wie beruflich Interessierte. Sie begutachten die Blumensträuße und versuchen sich am Gedicht. Ihre Männer, ihre Eltern sind auf dem Friedhof beerdigt, und dann gehen sie auch schon mal bei „der Ulrike“ vorbei. Das Duzverhältnis teilen sie mit dem Steinmetzmeister.
So sind die Berliner. Sie mögen anfänglich etwas gegen Fremde haben – kein anderer Friedhof wollte ein Grab für die Oberterroristin bereitstellen – aber wenn se schon ma da is, denn kiekt man ooch ma rum. Ulrike Meinhof gehört jetzt dazu. Sie ist länger dort, als sie je woanders war: seit vier Jahrzehnten unter der großen Tanne in Teil A, Reihe 12 Nummer 19 des stillen und an ihrem Todestag sonnendurchfluteten Dreifaltigkeitsfriedhofs.
Eine Reihe weiter liegt Karl Naumann. Er hat nur Thuja und Efeu, keine bunten Blumen – aber wie ein triumphierend einfaches Mahnmal ragt an einem langen Stil ein Nistkasten für Meisen in die Höhe. Es ist ein sehr fröhliches Lebenszeichen.
Geht man weiter in den hinteren Teil, liegen dort Steinplatten über Massengräbern, auf denen Namen, Geburts- und Todesdaten und „Unbekannter Soldat“ oder „3 Zwangsarbeiter unbekannter Nationalität“ steht. Und, besonders berührend, eine schlichte Mauer, die BVG-Angehörige 1951 für die jugendlichen „Arbeitsmaiden“ (Teil des Reichsarbeitsdienstes) errichtet hatten, die in der U-Bahn als Schaffnerinnen eingesetzt waren und bei einem Bombenangriff im April 1945 ums Leben kamen.
Der Dreifaltigkeitsfriedhof in Berlin ist ein entrückter und deutscher Ort. Ernst und schön. Voller Gewalt und Schwermut und gleichzeitig tröstlich. Rotkehlchen auf Stelen der Massengräber.
Ein Jahr bevor Ulrike Meinhof sich erhängte, hatte das Kommando Holger Meins in Stockholm die deutsche Botschaft besetzt, die Freilassung von 26 Häftlingen gefordert und zwei Botschaftsangehörige erschossen. Weitere Tote und Verletzte folgten, anderthalb Jahre nach Ulrike Meinhofs Tod begann der Deutsche Herbst. Die zweite Generation war in Worten und Taten unerbittlicher als die erste. Eine dritte folgte. Sonst nichts.
Sechs Monate nachdem sich Cemal Kemal Altun aus dem Fenster gestürzt hatte, wurde ihm postum Asyl gewährt. Drei Jahre nach seinem Tod gründete sich als Reaktion auf die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland „Pro Asyl“, um die Rechte von Geflüchteten zu verteidigen. Das ist gut.
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