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Kann man hingehen

Kunst AM Bau Freiimfelde galt nicht gerade als bestes Viertel in Halle. Nun ist es ein Hingucker. Künstler aus beinahe allen Weltteilen haben mittlerweile 72 Häusern ein neues, oft knallbuntes Gesicht gegeben

Künstler der EHW Crew bei der Arbeit an einer Mauer in Freiimfelde Foto: Thomas Häßler

aus halle Hanna Voß

Angefangen hatte alles mit einer Frage an das Statistische Bundesamt: Welche deutsche Großstadt hat den meisten Leerstand? Die Antwort: Halle an der Saale. Also packte Hendryk von Busse am anderen Ende von Deutschland, in Dortmund, seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg in den Osten. Und weil das emsige Bundesamt auch direkt die Straße mit dem meisten Leerstand herausgesucht hatte, ging es für den jungen Raumplaner nach Halle Ost, Freiimfelde, Landsberger Straße. Eigentlich nur, um seine Diplomarbeit zum Thema „Urbane Kunst in einer schrumpfenden Stadt“ zu schreiben. Doch gesellige, junge Menschen wie von Busse lernen schnell andere gesellige Menschen kennen.

Bei Ina Treihse wird er zum WG-Casting eingeladen, sie sitzen lange in ihrer Küche, werden Mitbewohner. Nach und nach bildet sich um sie herum ein Team, das schließlich eine Idee formuliert: Leerstand bemalen. Graffiti-Kunst dorthin bringen, wo kaum noch jemand wohnt, und das ausgerechnet in AfD-Land. Der zusammengewürfelte Haufen von Mittzwanzigern – darunter Künstler, Raumplaner, Pädagogen, Soziologen und Psychologen – nennt sich „Freiraumgalerie“ und macht einfach mal.

Heute kann Ina Treihse Menschen in einem eigenen Büro im vierten Stock empfangen. Sie macht das sehr herzlich und sichtlich stolz, weil sie weiß, schon für das Büro könnte sie Eintritt verlangen. Eine erkerartige Fensterfront am anderen Ende des Raums öffnet den Blick auf ein Viertel, das noch vor vier Jahren kaum jemand freiwillig betreten hätte. „Früher hat man nur hinter vorgehaltener Hand zugegeben, dass man in Freiimfelde lebt“, sagt Treihse und setzt sich mit ineinander verschlungenen Beinen auf ein blaues Sofa.

Das steht direkt vor einem imposanten Fenster. „Kino“ nennen sie diesen Ort. Es läuft ein Tierfilm. Gewissermaßen. Auf der gegenüberliegenden Hausfassade prangt ein gigantisches Bild, das in Bewegung zu sein scheint. Ein Tukan kreischt. Ein Hai sagt „Hi“, ein Hahn hütet einen Schlüssel, ein Flamingo als rasender Reporter, ein Tiger, eine Katze, Chamäleon, ein Labrador. Die „Bunte Tierwelt“ ist eine von mittlerweile 72 angemalten Hausfassaden in Freiimfelde.

72 angemalte Hausfassaden. Das Ergebnis von nur vier Jahren Arbeit. Auf so engem Raum ist das einzigartig in Europa. Ina Treihse blickt von ihrem Kino auf das Stadtviertel, auf ihr Stadtviertel. Sie schlürft Tee, lächelt ein grübchenreiches Lächeln und erzählt von früher. Vom Jahr 2011, von geschlossenen Ladenlokalen, bröckelnden Fassaden, leerstehenden Wohnungen, dem nicht vorhandenen Leben auf den Straßen.

Nicht weit entfernt steht eine Baracke. Einst war das ein Schlachthof, ein Top-Arbeitgeber in der DDR. Wer bis zur Wende hier arbeitete, wohnte auch in Freiimfelde. Dann musste der Schlachthof schließen, und für die plötzlich Arbeitslosen gab es keinen Grund, länger in Freiimfelde zu bleiben. Die Mieten wurden unheimlich günstig und lockten eine bestimmte Klientel an. Irgendwann wurde „das Viertel hinterm Bahnhof“ nur noch mit allem Schlechten assoziiert: Kriminalität, Prostitution, Drogen. „Nach Freiimfelde geht man nicht“, hieß es.

Dann kamen Treihse, von Busse und all die anderen und legten los. Als wäre Freiimfelde eine Seite in einem Malbuch gewesen, an der sie sich zu schaffen gemacht haben. Sie setzten sich mit Eigentümern und Bewohnern auseinander und organisierten Infoveranstaltungen, Workshops und das erste „All you can paint“-Festival. Hunderte Menschen bemalten an nur einem Tag gemeinsam 5.000 Quadratmeter Wandfläche. Sie wollten alle überzeugen – auch die Skeptiker. Jene, die die Idee generell gut fanden, wollten sie an sich binden, Kreativität vor Ort generieren.

Ohne fast schon absolute Bürgerbeteiligung läuft beim Team der Freiraumgalerie nichts. Systematisch wurde dann begonnen, den Leerstand der Landsberger Straße Künstlern als Leinwand anzubieten. Treihse nennt es: „Wir haben das Viertel nicht nur geschminkt, sondern um die Fassaden herum Veränderungen angestoßen.“ Treihse ist 28, vieles an ihr ist ziemlich klein geraten: die Stupsnase, die Hände, die Füße in den ausgetretenen Schuhen. Wenn sich die studierte Pädagogin nicht irgendwann dazu entschieden hätte, Menschen zu organisieren, die Häuser anmalen, hätte sie auch die Hermine in „Harry Potter“ spielen können.

Anfangs fragten die Freiberufler der Freiraumgalerie die Künstler an, die ihnen gefielen. Heute schreiben Künstler Bewerbungen, um eine Fassade in Freiimfelde zu bekommen. Anfangs kamen Dose, Pinsel und Rolle zu 80 Prozent an Leerstand zum Einsatz, heute sind auch bewohnte Häuser darunter. Weil immer mehr Menschen sagen: So was kann ich mir für meine eigene Fassade vorstellen. Anfangs waren es meist lokale Gruppen und Kunstschaffende aus dem Osten der Republik, die malten, heute sind es Künstler aus aller Welt. Anfangs verstanden viele Freiimfelder unter Graffiti kryptische Schriftzeichen, die sie nie entziffern konnten, heute sehen sie die bunte Tierwelt und den Traumzauberbaum und sagen: Das ist Kunst.

Im Jahr 2016, schätzt die Stadt, gibt es noch 20 Prozent Leerstand in Halle Freiimfelde. Als die Freiraumgalerie anfing, waren 60 Prozent aller Häuser allein in der Landsberger Straße unbewohnt. Jetzt leben fast 3.000 Menschen auf dem überschaubaren Fleck zwischen Bahnhof und Freiimfelder Straße, das ist gegenüber 2011 ein Anstieg um 16 Prozent. Pro Quadratmeter in einer unsanierten Wohnung zahlte man damals noch etwa 3,90, heute sind es zwischen 4 und 7 Euro. Die, die möchten, dass alles bleibt, wie es ist, beschweren sich über die höheren Preise. Doch wer das Wort Gentrifizierung in den Mund nimmt, dem sagt Treihse: „Wir sind in Halle, nicht in Leipzig oder Berlin.“ Und sie versichert auch, dass eine Gruppe, die selbst am Ort verwurzelt ist und aus Raumplanern und Soziologen besteht, Phänomenen wie Gentrifizierung vorbeugen kann. Es sei auch das Ziel der Stadt, Gentrifizierung in Freiimfelde zu vermeiden, beteuert Uwe Stäglin vom Bereich Stadtentwicklung und Umwelt.

Beim Spaziergang saugt Treihse die Kunstwerke ihres Viertels auf, als wäre es nicht das hundertste Mal, dass sie jemanden durch Freiimfelde führt. Sie bleibt an den Häusern stehen, die ihr besonders wichtig sind. Das erste, das überhaupt bemalt wurde etwa. Es heißt „Schafcollage“, weil ziemlich viele der wollenen Tiere, mal mehr, mal weniger schöne, darauf herumhopsen. Auch sie hat eines der Schafe gemalt, obwohl sie laut eigener Aussage „völlig untalentiert“ ist. Treihse ist vor allem für die Organisation zuständig, von Busse für die Konzeption und Danilo Halle für Künstlerkoordination und Buchhaltung.

Halles „Bunte Tierwelt“ Foto: Danilo Halle

Die drei bilden den innersten Kern der Freiraumgalerie, arbeiten als Einzige hauptberuflich. Zum erweiterten Kreis gehören etwa zehn Mitstreiter, bei Festivals wie dem „All you can paint“ sind es an die 100 ehrenamtliche Unterstützer. Die Freiraumgalerie finanziert sich über verschiedene, kleine Fördertöpfe und unter anderem über die Kunststiftung Sachsen-Anhalt.

Jesus und ein alter Mann

Treihse lenkt durch das Viertel, kaum mal an fünf Häusern vorbei, von denen nicht mindestens eines in Farbe getaucht wurde. Eine Fassade zeigt ein Werk des Brasilianers Paulo Ito; es ist das letzte Abendmahl, bei dem sich Jesus, Judas und die anderen Jünger über ihre Smartphones beugen. Die argentinische Künstlerin Marina Zumi hat bunte Bienenstockwaben auf ein Eckhaus gepinselt. Der Koblenzer Künstler Hendrik ECB Beikirch hat auf eine rund vier Meter hohe Hauswand das Gesicht eines alten Mannes aus Sibirien gebracht. Der Blick des Alten ist so eindringlich, dass man sich nur schwer davon lösen kann.

Weil die Stadt die Arbeit der Freiraumgalerie schätzt, beauftragte sie sie jetzt zusätzlich mit einem Quartierskonzept. Dann wird es nicht mehr nur darum gehen, Häuser hübscher zu machen, sondern auch unattraktive Dinge wie Parkplätze zu bauen, die Treihse zufolge dringend gewünscht werden. „Wir sind dazu da, uns kreative Lösungen einfallen zu lassen“. Sie werden auch dafür sorgen müssen, dass kein Investor von außen kommt und einfach mal einen Obi in Freiimfelde platziert.

Alle 72 bunten Häuser haben die Freiraumgaleristen mittlerweile fotografiert und in ein Buch gefasst. Es kostet 39,90 Euro und erzählt eine Erfolgsgeschichte, die auch unter www.freiraumgalerie.com nachzulesen ist. „Es war ein Experiment, das funktioniert hat“, sagt Treihse. Auch weil die Voraussetzungen günstig waren: Fast alle Häuser in Freiimfelde gehören Privatleuten und keinen abstrakten Gesellschaften in einer kilometerweit entfernten Großstadt. „Freiimfelde hat immer noch ein Riesenpotenzial“: den Satz sagt Treihse oft. Aber mit Blick in die Zukunft sagt sie auch: „Wir würden gerne die ganze Welt anmalen.“ Wäre die Welt ein Malbuch, gäbe es noch viele leere Seiten.

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