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Tschernobyl, heute

KERNSCHMELZEEine Generation danach scheint vieles wieder normal: Auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks arbeiten Tausende Menschen, drum herum gedeiht die Natur. Über die Folgen des Super-GAUs – in der Ukraine und bei unsSEITE 2–12

Hochzeitsfeier auf der Datsche: Schenja und Julia in Slawutitsch, knapp 50 Kilometer östlich von Tschernobyl, aufgenommen im Juni 2013 Fotos: Niels Ackermann/Polaris/laif; ap (oben)

Geigerzähler, Strahlentabellen in fast allen Tageszeitungen, Hamsterkäufe von Konserven und die bange Frage, ob es gefährlich ist, bei Regen das Haus zu verlassen. Die Erinnerungen daran, was die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit den Menschen gemacht hat, ist wohl auch 30 Jahre nach der Havarie allen Zeitzeugen präsent. Tschernobyl war eine Zäsur. Doch was hat der Super-GAU wirklich verändert? Wir haben uns für diese Ausgabe der taz.am wochenende auf die Suche nach der Generation Tschernobyl begeben.

Da ist die Bundesrepublik, die sich vom Atomstaat zum Atomausstiegsstaat gewandelt hat. Und da die Ukra­i­ne, wo unweit der Front das größte Atomkraftwerk Europas betrieben wird. Zwei Welten, die so recht nicht zusammenpassen. Hat die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch recht, wenn sie sagt, die Welt habe den Krieg gegen Tschernobyl verloren? Oder sollen wir dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit folgen, für den auch der Wandel der Protestkultur vom Revolutionären zum Welterhaltenden dafür gesorgt hat, dass der Atomausstieg erst möglich geworden ist?

Wie der Krieg gegen die Strahlung am Ort der Katastrophe geführt wird, lässt sich am Bau der neuen Schutzhülle beobachten. Das gigantische Bauwerk soll für die nächsten 100 Jahre die Region vor den Strahlen aus dem havarierten Reaktor schützen. Es ist ein Megaprojekt, das für uns Deutsche wichtiger erscheint als für viele Ukrainer, die versuchen, in der Nähe von Tschernobyl ein möglichst unbeschwertes Leben zu führen.

Die Fotoserie des Schweizer Fotografen Niels Ackermann, aus der auch das Bild auf dieser Titelseite stammt, versucht, die Stimmung der jungen Menschen einzufangen, deren Familien vor 30 Jahren die Gegend verlassen mussten, die wir seit der Katastrophe die Todeszone nennen. Tschernobyl ist für sie zum Arbeitsplatz geworden, zur Kulisse von Badeausflügen an den großen Fluss. Die jungen Menschen dieser Generation Tschernobyl scheinen zumindest vor der Atomkraft kaum Angst zu kennen – ebenso wenig wie die Arbeiter in der riesigen Atomanlage von Saporischja.

Und wir? Während wir darüber nachdenken, wo das deutsche Endlager im Postatomzeitalter stehen soll, machen sich Start-ups in den USA daran, neue Kraftwerkstypen zu entwickeln, und gerieren sich als die großen Klimaschützer. Hat der deutsche Weg wirklich Modellcharakter, oder wird er zum Sonderweg? Mit Fragen dieser Art werden wir uns noch lange beschäftigen müssen. Die Erinnerung an Tschernobyl muss bei den Antworten auf diese Fragen immer eine Rolle spielen. Auch deshalb ist Tschernobyl gegenwärtig. Und das wird es wohl noch für Generationen bleiben.Bernhard Pötter, Andreas Rüttenauer

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