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SPD-Fraktion unter Druck

BETRUGS-VERDACHT Bei den Bremerhavener Sozialdemokraten wird der Abgang von Patrick Öztürk aus der SPD-Fraktion gefordert. Die aber kann sich Schwund kaum leisten

Patrick Öztürk ist SPD-Abgeordneter. Dass er auch Sohn ist, darf nichts zur Sache tun Foto: SPD-Fraktion

von Henning Bleyl

Am Mittwoch debattiert die Bürgerschaft in einer Aktuellen Stunde über den „Massenhaften Sozialbetrug in Bremerhaven“, wie die antragstellende CDU formuliert. Dabei geht es um den Vorwurf, die in Bremerhaven registrierten Vereine „Agentur für Beschäftigung und Integration“ und „Gesellschaft für Familien und Gender Mainstreaming“ hätten rund 1.000 Scheinarbeitsverhältnisse mit bulgarischen ArbeitnehmerInnen geschlossen, um unrechtmäßige Ansprüche auf Sozialleistungen zu generieren. Offen ist noch die Frage, ob an dieser Debatte auch der medienpolitische Sprecher der Fraktion teilnimmt: Patrick Öztürk.

Der Abgeordnete Öztürk ist der Sohn des Vorsitzenden der beiden unter Betrugsverdacht stehenden Vereine. In der Bremerhavener SPD wird nun die Forderung nach einem Mandatsverzicht durch Öztürk laut – was mit „Sippenhaft“ nichts zu tun habe, sondern mit dem Umstand, dass Öztürk junior bis September vergangenen Jahres selbst Vorstandsmitglied der „Agentur für Beschäftigung und Integration“ sowie „Gesellschaft für Familien und Gender Mainstreaming“ gewesen sei.

Zudem werden nun allerdings Vorwürfe wiederholt, die mit dem Wahlkampf zu tun haben und bereits mit einer Rüge durch den SPD-Unterbezirk Bremerhaven geahndet wurden: Damals war Öztürk vorgeworfen worden, mit Drückerkolonnen-Methoden zu arbeiten. Auch die im Ermittlungsfokus stehenden Vereine hätten seine Kandidatur unterstützt.

Allerdings ist Öztürk, der seit 2011 in der Bürgerschaft sitzt und Gymnasiallehrer, Vorsitzender bei „WIN – Wohnen in Nachbarschaften“ und der Stadtteilkonferenz Lehe ist, auch über zahlreiche andere Mitgliedschaften und Engagements etwa bei der AWO, der GEW und dem WWF vernetzt. Mit 2.031 Personenstimmen gelang ihm die Wahl ins Parlament.

Während Teile der Bremerhavener SPD nun versuchen, Öztürk loszuwerden, äußert sich die Bremer SPD-Spitze deutlich vorsichtiger zu dieser Angelegenheit – was auch damit zusammenhängt, dass Rot-Grün sehr behutsam mit seiner Drei-Stimmen-Mehrheit im Landtag umgehen muss. „So lange gegen Patrick Öztürk nicht ermittelt wird“, sagt SPD-Fraktionssprecher Matthias Koch, „haben wir keinerlei Veranlassung, ihn auszuschließen.“ Auch der Abgeordnete Mehmet Acar, gegen den ebenfalls wegen Betrugsvorwürfen ermittelt wird, nimmt sein Mandat weiter wahr.

Bislang hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen 180 Personen eingeleitet. Nach bisherigem Ermittlungsstand mussten die Betroffenen zwar den Großteil des erschwindelten Geldes an die Vereine abgeben, dennoch wird Mitwisserschaft und Mitschuld vermutet.

Rot-Grün hat nur noch drei überm Durst. Da bleibt ein „Auf ex“ aus vielen Gründen in der Kehle stecken

Insgesamt geht es um rund 1.500 Beschäftigungsverhältnisse. Die daraus resultierenden Ansprüche auf Sozialleistung bezogen sich nach Auskunft des Jobcenters Bremerhaven auf 500 Bedarfsgemeinschaften türkischsprachiger BulgarInnen mit insgesamt 1.500 Mitgliedern, sowie auf 150 Bedarfsgemeinschaften ebenfalls türkischsprachiger GriechInnen mit zusammen 700 Versorgungsberechtigten.

Die Agentur für Beschäftigung und Integration, über die ein Großteil der Scheinverträge geschlossen wurde, spiegelte ein Leistungsangebot vor, wie es umfangreicher kaum denkbar ist. „Ähnlich dem Hausarztprinzip“, hieß es auf der mittlerweile gelöschten Homepage, vermittle man „als Generalist im sozialen Bereich bei Bedarf auch an weitere Fachberater“. Mit 21 Spiegelstrichen ist dann aufgeführt, was alles unmittelbar vom Verein angeboten würde: ein „breites sozialpädagogisches Beratungsangebot in Einzelbetreuung, für Lebenspartner, Familien, oder Gruppen mit den verschiedensten Problemen und Bedürfnissen“ ebenso wie „Rückhalt und Hilfe bei innerfamiliären Problemen“ sowie „Hilfe bei der Berufsfindung und Berufsprofiling“. Letzteres bestand häufig aus Tankreinigen und Lackieren ohne Schutzkleidung. Die existierenden Beschäftigungen waren nicht weniger skandalös als die Vorgespiegelten.

Offen ist die Frage, warum die Vorgänge erst so spät aufgedeckt wurden – wie das auch bei den Betrugs-Vorgängen rund um die Interkulturelle Werkstatt Tenever der Fall war. Dem Jobcenter Bremerhaven waren bereits Ende 2014 massive Ungereimtheiten aufgestoßen, eine Anzeige erfolgte erst ein Jahr später.

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