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Debatte TürkeiAtatürks späte Rache

Ingo Arend
Kommentar von Ingo Arend

Erdoğan kopiert nur den autoritären Stil der Atatürk’schen Modernisierung. Ein neuer kultureller Aufbruch braucht eine veränderte Symbolpolitik.

Erdogan will die Atatürk’sche Kulturrevolution ungeschehen machen Foto: reuters

S peertragende Wächter, Krieger in schimmernden Kettenhemden und Soldaten mit Goldhelmen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas staunte nicht schlecht beim Staatsbesuch vergangenes Jahr in der Türkei. Auf der Freitreppe seines funkelnagelneuen Präsidentenpalastes in Ankara hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan 16 kostümierte Soldaten antreten lassen – lebende Symbole der 16 Sterne seines Siegels, die für die 16 anatolischen Reiche stehen.

Machthunger und Großmannssucht, das zeigte die Szene, treiben den Muslim, der es aus einem Istanbuler Proletarierbezirk an die Spitze der Republik in Ankara geschafft hat, gewiss. Doch auch wenn er neuerdings Freiheit und Gerechtigkeit zum Teufel wünscht, dem Verfassungsgericht droht, gar Hitler-Deutschland zum Vorbild erklärt: Ein durchgeknallter Diktator ist Erdoğan nicht. Seine Obsession mit Symbolen offenbart vielmehr sein eigentliches Ziel: eine Kulturrevolution.

Ob er vor drei Jahren den Istanbuler Gezipark für eine Shopping-Mall im Stil einer alten osmanischen Kaserne umzupflügen versuchte. Ob er das Atatürk-Kulturzentrum am Taksimplatz verfallen und stattdessen ein Riesen-Panorama zur Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels 1453 errichten lässt. Oder ob er seinen neuen Palast in Ankara demonstrativ auf eine von Staatsgründer Atatürk zum Staatsforst bestimmte Grünfläche bauen ließ: Spätestens als er den Palast „Külliye“ taufte, den traditionellen Komplex aus Schulen, Küchen und Gästehäusern um eine Moschee, war klar, wohin die Reise gehen soll.

Religiöser Führerstaat

Ingo Arend

ist Politologe und Historiker und schreibt als taz-Autor über Kunst und Politik. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).

2023, im Jahr des 100. Jubiläums der Staatsgründung, soll ein religiös basierter Führerstaat den demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat abgelöst haben, den die Verfassung vorsieht.

Den Keim für diesen Retrovirus freilich hatte die Atatürk’sche Kulturrevolution selbst gelegt. Über Nacht schnitten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts dessen Reformen das Land gewaltsam von seiner jahrhundertealten Geschichte und Kultur ab. Jetzt kehrt das Verdrängte zurück.

Das System Erdoğan ist der – brutalste – Ausdruck des Drangs, das Land an seine kulturellen Quellen zurückzubinden, Rache für 1923 zu nehmen – das Jahr der Republikgründung. An dem Phantomschmerz über diesen Verlust leiden nicht nur fromme Muslime.

Erdogans symbolische Obsession offenbart sein eigentliches Ziel: Eine Kulturrevolution

In seinem Buch „Istanbul“ beschreibt schon Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, wie ihn beim Anblick der architektonischen Relikte des Osmanischen Reiches, „hüzün“, das Gefühl unerklärlicher Schwermut überkommt, weil er deren Inschriften nicht entziffern kann. Geschickt griff Erdoğan vor zwei Jahren dieses Sentiment mit seinem Plan auf, an den Schulen wieder Osmanisch zu lehren.

Dass Erdoğan seine Mission in seinem 1.000-Zimmer-Palast unter einem Atatürk-Porträt vorantreibt, ist keine geschickte Tarnung, sondern ein folgerichtiges, symbolisches Paradox. Denn von Mustafa Kemal hat er sich die Erziehungsdiktatur abgeschaut, mit der er dem Land eine osmanische Rolle rückwärts verordnen will.

Ayran statt Raki

So wie sich sein ungeliebter Vorgänger als strenger Lehrer gerierte, der den Menschen vor der Schiefertafel das lateinische Alphabet einbläute, lehrt Erdoğan Kurden und Demonstranten mit vorgehaltener Tränengaspistole Mores, verordnet der Nation Ayran statt Raki als Nationalgetränk oder stellt beim Sonntagsspaziergang einen Raucher zur Rede.

Wie vor 90 Jahren wird der Körper der Frau zur symbolischen Projektionsfläche und zum Kampffeld. Atatürk tanzte demonstrativ mit seiner Stieftochter Nebile in der Öffentlichkeit. Erdoğan beschwört die „heilige Pflicht“ der Frauen, der Nation mindestens drei Kinder zu gebären, und will die Geburt jedes Kindes mit einer Goldmünze belohnen.

So gesehen ist der Fall Erdoğan lehrreich: Stellt er doch die Rache der Geschichte für eine autoritäre Modernisierung dar. Seine Herrschaft markiert die blutige Implosion einer der großen Revolutionen aus Eric Hobsbawms abgelaufenem „Jahrhundert der Extreme“. Und die dringendste Aufgabe derzeit ist es, die Nebenwirkungen dieses Zerfalls in Gestalt von Erdoğans immer gespenstischerem Cäsarenwahn einzudämmen.

Das späte Scheitern der türkischen Revolution belegt aber auch, dass Demokratie und modernes Leben in traditionellen Ländern nicht auf Befehl wachsen, sondern nur von unten. Vor dieser Aufgabe steht das Land, sollte Erdoğan eines Tages abtreten müssen. Dieser neue Aufbruch zur Moderne am Bosporus braucht aber auch eine neue Symbolpolitik.

Band der Volkstümlichkeit

Das Problem der kemalistischen Elite in der Türkei war immer, dass sie nicht die Sprache der einfachen Menschen sprach, ihre Lebensweise verachtete. Der britische Historiker Perry Anderson vermisste an ihr ein „Band der Volkstümlichkeit“, das sie mit den konservativen und religiösen Massen verband. Sie blieb, schrieb er schon 2008, immer „vertikal“. Ganz im Gegensatz zu Recep Tayyip Erdoğan. Horizontaler geht’s nicht: Das verschleierte Mütterchen aus der Provinz fühlte sich bei ihm symbolisch genauso zu Hause wie die mondäne, neomuslimische Bourgeoisie.

Diese neue Symbolpolitik muss den Menschen also Lebensweisen und Kleiderordnungen anbieten, statt sie zu oktroyieren. Und sie muss attraktive Symbole kreieren, die ihrer Lebenswirklichkeit entstammen, statt immer nur das ausgeblichene Bild des türkischen Übervaters mit Fellmütze oder im Frack hochzuhalten. Wie es die republikanische Volkspartei CHP mit ihrem garantiert charismafreien Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu immer noch tut.

Oder mit seinen „sechs Pfeilen“ zu wedeln, die er immer noch im Parteiwappen führt und zu denen neben Laizismus, Säkularismus, Etatismus, Republikanismus, Populismus eben auch der unnachsichtige Nationalismus gehörte, den Erdoğan gerade wieder blutig entfacht.

Mit dem hatte die temporäre Republik Gezi, die sich im Gezipark 2013 aus den Protesten gegen Erdoğans Bau- und Regierungspolitik entwickelte, nichts am Hut. Ihre Gründer trugen Kopfhörer und Gasmasken. Symbole wurden ein tanzender Derwisch, die Frau in Rot und die Regenbogenfahne.

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Ingo Arend
Autor und Kritiker
Ingo Arend, Politologe und Historiker, Autor, Kritiker und Juror für Bildende Kunst, Literatur und Politisches Feuilleton. Lange Kulturredakteur des "der freitag", 2007 bis 2009 sein Redaktionsleiter. Redakteursstationen bei taz und Deutschlandfunk Kultur. 2015-2023 Mitglied des Präsidiums der neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (nGbK). Spezialgebiet: Global Art, Kunst und Politik, Kunst und Geschichte, Kunst und Kultur der Türkei. Weblog: Ästhetik und Demokratie.
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8 Kommentare

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  • ein 'Religiöser Führerstaat' ist bei Erdogan durchaus vorstellbar.

    Allerdings sollten wir hier nicht die gleichzeitig vorhandenen autoritären Strukturen, Behörden, Personen, Politikmacher dabei übersehen.

     

    Die von Repression Betroffenen aller Länder sollten sich zusammenschließen.

  • "Erdoğan beschwört die „heilige Pflicht“ der Frauen, der Nation mindestens drei Kinder zu gebären, und will die Geburt jedes Kindes mit einer Goldmünze belohnen."

     

    Betonung auf MINDESTENS.

    Und damit das auch klappt, drückt der Staat beide Augen zu, wenn 14, 15 und 16 Jährige verheiratet werden - ob gegen ihren Willen oder nicht ist da egal: Mittlerweile ist jede dritte Braut minderjährig. DAS ist die Kulturrevolution, die die taz hier nicht erwähnt: http://www.welt.de/vermischtes/article123892353/Fast-jede-dritte-tuerkische-Braut-ist-minderjaehrig.html

  • Kurz und nicht minder grimmig geantwortet,

     

    hochverehrter LOWANDORDER,

     

    ich vermute mal, Sie sind Rentner. Oder gar geschickt getarnter TAZ Mitarbeiter. Der sich aber aus redaktionellen Gründen, die sich der Leserin nicht unmittelbar erschliessen, nur im Leserkommentarbereich tummeln darf.

     

    Wie auch immer - der eher ungeneigte Leser findet Ihre Kommentare unter ganz vielen Artikeln. Versteht sie aber nicht. Eine Umfrage unter meinen die TAZ lesenden Freundinnen hat ergeben, dass noch nie jemand einen Ihrer Kommentare zu Ende gelesen zu haben scheint. Ist allerdings auch recht verwirrend - all die vielen, aneinander gereihten Klammern, Bindestriche, Semikolone, Ausrufungs- und Fragezeichen erschweren das zusammenhängende Lesen doch ganz ungemein. Und wenn man die Textfetzen zwischen all diesen Satzzeichen mal extrahiert, wandert eines der schon erwähnten Fragezeichen über das eigene Haupt und man fragt sich: was soll das? Und was bedeutet es, wenn es denn etwas bedeuten soll? Aber vielleicht ist es ja auch nur ein spätgermanistischer TAZ - Langzeitversuch zur Erkundung der leserlichen Akzeptanz von so einer Art Neodadaismus. Wie auch immer, LOWANDORDER - 's ist mal wieder Zeit für was Neues, noch nie Dagewesenes oder wie Sie ja selbst schreiben "Ein neuer kultureller Aufbruch braucht eine veränderte Symbolpolitik." Horrido!

    • @Wilfried Kramme:

      Upps - Willis Jagdsaison;()

      "…Neodadaismus. Wie auch immer, LOWANDORDER - 's ist mal wieder Zeit für was Neues, noch nie Dagewesenes oder wie Sie ja selbst schreiben "Ein neuer kultureller Aufbruch braucht eine veränderte Symbolpolitik." Horrido!…"

      Wo laufen sie denn - die Rentiere;))

       

      Tja - so ist das mit dem - Nicht zu Ende

      Lesen - & den Anfang - des Herrn Amend!! - schon wieder vergessen haben;)) aber ansonsten empfiehlt der Onkel Doktor wie immer in solchen Fällen 1x Globuli als homöopathische Dosis aus dem Hause Erich Bötticher ~> http://tazelwurm.de/avant-propos/

      • @Lowandorder:

        Keine Ahnung wo die Rentiere laufen. Was hingegen das Lesen & den schon wieder vergessenen Anfang betrifft, so hatten Sie vermutlich nicht Herrn Amend sondern Herrn Arend gemeint. Ansonsten - geht doch! Auch ohne den ganzen Zeichenschnickschnack!

        • @Wilfried Kramme:

          ;)) - ich zitier mal einen ex-Foristen;))

           

          "Er hat sich immer sehr bemüht, der "Herr Willi" (nach Max Frisch)"

          kurz - Humor - ist wenn man trotzdem

          Lacht - klar frau auch!;()

          Sie müssen - deswegen nicht &

          Schnickschnackschnuck

          in den Keller gehen.

          Bittedannichfür:

      • @Lowandorder:

        sorry - jetzt spiel hier auch schon den Salatier - verdächtig - verdächtig;)

        Vom dem Herrn Kulturredakteur

        Ingo Arend!! stammt natürlich das

        Zitat - zur Neuen Symbolpolitik &

        Der späten Rache Atatürks;))

  • Auch mal - Eine Frage;)

    " Jetzt kehrt das Verdrängte zurück."

    Schonn. Duck duck - but - ;()

     

    "Debatte Türkei - Atatürks späte Rache

    Erdoğan kopiert nur den autoritären Stil der Atatürk’schen Modernisierung. Ein neuer kultureller Aufbruch braucht eine veränderte Symbolpolitik."

     

    Uups. Lieber Herr Arend - ich stimm Ihnen ja cum grano salis gern zu.

    Aber - mit Verlaub - "Atatürks späte Rache" ¿!¿!¡(()

    Geht's noch?!!;) - Oder wollen Sie -

    Öh - Mitmythologisieren¿! - Gewiß!

    Sultan Recep I. Tayyip Erdogan - ja den!

    Würds schonn klammheimlich freuen;-D

    (&Angela klemmiErdogan?¿! - aka -

    Das FDJ-Winkelement??) - Oder gar ~>

    Böhmermannern Sie jetzt auch?¿;))

    kurz - Grimmig gefragt;))