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Kolumne HerbstzeitlosSag mir, wo du stehst

Martin Reichert
Kolumne
von Martin Reichert

Man denkt, dass man einfach nur in Brandenburg spazieren geht. Dabei bebt um einen herum die Nachkriegsordnung.

Hauptgebäude der ehemaligen FDJ-Hochschule Bogensee Foto: dpa

N och vor nicht allzu langer Zeit war mein Lebensgefährte einfach ein EU-Bürger aus dem Schengenraum, der in Berlin gemeldet ist und hier arbeitet. Doch im neuen Deutschland ist er längst zum „Wirtschaftsflüchtling“ mutiert. Als Slowene stammt er zwar nicht vom „Westbalkan“, wird aber aufgrund seines mediterranen Äußeren – inklusive Schnurrbart – irgendwo unter „Nordafrikaner“ verbucht. Nur in Berlin-Kreuzberg und Neukölln wird er prinzipiell auf Türkisch begrüßt, Merhaba.

Hier in Neukölln, wo alle Englisch sprechen, versucht er gerade, seine in der Mittelstufe erworbenen Deutschkenntnisse aufzufrischen mithilfe von Langenscheidt-Schulmaterialien aus den späten Achtzigern. In dem in diesen Deutschbüchern dargestellten Deutschland-West geht es ständig um Verbote, Verbotsschilder und Diskussionen über Verbote und Verbotsschilder (“Sie dürfen hier nicht parken. Haben Sie das Schild nicht gesehen?“).

Da es die BRD aber nunmehr so wenig gibt wie Jugoslawien, übernehme ich das mit der Landeskunde lieber selbst. Um meinem Freund das totalitäre Erbe Gesamtdeutschlands zu vermitteln, fuhr ich also mit ihm in den brandenburgischen Wald.

Zu Besuch bei Goebbels und Honecker

Schwarze Pädagogik? Nein, so einfach habe ich es mir nun auch nicht gemacht. Es handelte sich um einen Ausflug zur ehemaligen FDJ-Hochschule in Bogensee bei Berlin, einem von Hermann Henselmann („Stalin-Allee“) entworfenen Ensemble im Stil des Sozialistischen Klassizismus, das nun einmal mitten im Wald liegt. Und das auch noch direkt neben Goebbels’ ehemaligem Landsitz. Hier begrabschte der Propagandaminister einst UFA-Schauspielerinnen – und genau hier hielt 1946 die FDJ unter Erich Honecker ihre ersten Seminare ab.

Nun stapften wir also durch eine Geistersiedlung mit bröckelndem Putz, und ich war plötzlich ganz froh, dass hier in dieser Einöde tatsächlich kein Mensch war: Als Homopaar kann man sich ja noch einigermaßen unsichtbar machen, indem man auf körperliche Nähe verzichtet. Aber wie seine Fremdheit verbergen, die zwar keiner richtig benennen kann, aber doch sofort erkennt?

Und da ist man ja dann schon mittendrin im Kapitel „Totalitäres Erbe“ Gesamtdeutschlands, wenn auch mit einem Schwerpunkt Ost: zwei Diktaturen hintereinander, erst Nazi-Landhaus, dann Komsomol-Kaderschmiede. Da bröckelt nicht nur der Putz an den Fassaden, da bröselt es auch im Hirn.

Kurz noch dachten wir darüber nach, wie tragisch es doch ist, dass all diese Gebäude leer stehen, während anderswo Flüchtlinge in Zelten und Traglufthallen hausen müssen. Aber wirklich nur kurz – in diesem seltsam verschatteten Umfeld sollte überhaupt keiner wohnen müssen.

Auf der Rückfahrt nach Berlin stellten wir fest, dass er als kleiner Junge das FDJ-Lied „Partisanen vom Amur“ in der slowenischen Variante gesungen hat, „Partizanska pjesma“. Und dass wir beide einer Generation angehören, für die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der Traum eines geeinten Europas eigentlich längst Wirklichkeit geworden ist.

Tatsächlich?

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Martin Reichert
Redakteur taz.am Wochenende
* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien
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4 Kommentare

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  • Immerhin, da steht ein Fragezeichen am Ende des Textes. Das ist schon sehr viel mehr, als man normalerweise bekommt von Leuten, die im tiefsten Westen der Republik geboren sind.

     

    Das mit der Generation ist allerdings ein sogenannter Schmarrn. Es gibt sie nämlich nicht, DIE eine Generation. Wer 1973 geboren ist, der war im Wendejahr 1989 immerhin schon 16 Jahre alt. In dem Alter haben manche Träume bereits ein Fundament. Eines, das seinerseits auf einem Boden steht, der hier liegt oder da. Der "Traum eines geeinten Europas" kann unter solchen Umständen sehr unterschiedlich aussehen.

     

    Mein eigener "Traum eines geeinten Europas" unterscheidet sich jedenfalls erheblich von der Realität, die mich derzeit umgibt, und das kann keinesfalls nur darin liegen, dass ich 8 Jahre älter bin als Martin Reichert. Die Wirklichkeit sieht derzeit eher aus wie das Gebäude auf dem Bild zum Text. Europa zerfällt uns unter den Händen. Und was unter dem abblätternden Putz zum Vorschein kommt, ist nicht eben attraktiv für mich. Das ist eher ein Albtraum als ein Traum.

     

    Wenn für irgendjemanden "der Traum eines geeinten Europas […] längst Wirklichkeit geworden ist", dann bin ich dieser Jemand jedenfalls nicht. Wer also hat das, was wir derzeit haben, gewollt, zum Henker? DIE Vierzig- bis Fünfzigjährigen? Die richtig Alten? Die Jüngeren? Keine "Generation“, so viel steht für mich fest. Zumindest keine, die sich irgendwie als solche artikuliert.

  • 3G
    30226 (Profil gelöscht)

    "Und da ist man ja dann schon mittendrin im Kapitel „Totalitäres Erbe“ [...] zwei Diktaturen hintereinander, erst Nazi-Landhaus, dann Komsomol-Kaderschmiede. Da bröckelt nicht nur der Putz an den Fassaden, da bröselt es auch im Hirn."

     

    Zerbröselte Gehirne braucht es auch, um den "Totalitarismus"-Quatsch inklusive Faschismus-Relativierung und Westdeutsche Schuldabwälzung zu schlucken. Die einen hatten zwei Dikaturen, die anderen hatten eine verordnete Importdemokratie, in der die Eliten der alten Dikatur flugs "umgebrandet" wurden.

    • @30226 (Profil gelöscht):

      Man kann es auch so formulieren: Im Osten hatten sie die Diktatur, im Westen die Diktatoren. Die (linke) Diktatur ist mittlerweile Geschichte. Die persilweiß gewaschenen (rechten) Diktatoren sind noch sehr präsent.

    • @30226 (Profil gelöscht):

      Genau das. Und ebenso wie für Ostdeutschland gilt, daß im homophoben, neuerdings nationalistischen Osteuropa bis vor kurzem alle Printmedien und haufenweise Sender Westdeutschen Unternehmensgruppen gehört haben.

      Nationalismus und Intoleranz haben nichts mit den sozialistischen Experimenten zu tun, sondern die sind gut getarnt aus den Zeitungen in die Hirne gekrochen.

      Oder kurz: Es wurde inzwischen erlernt, daß die gaucksche Freiheit nicht für alle da ist und mit schamloser, neoliberaler Ausplünderung der Bevölkerung einher geht. Da hat man nun gelernt, dem Rest dieser "Freiheit" auch zu mißtrauen.

      Neoliberalismus führt in den Faschismus. Ganz notwendig und unausweichlich.

      Im übrigen sollten gerade Schwule nicht vergessen, daß sie erst mit dem Einigungsvertrag aus der Illegalität geholt wurden. Die angeblich demokratische Bundesrepublik war nicht in der Lage, den nationalsozialistischen Unzuchtsparagraphen alleine abzuschaffen...