Ein verwirrter Detektiv auf der Berlinale: Zwei Telefonierer im Wald
In „Aloys“ rutscht dem Titelhelden die Realität weg, je mehr er von ihr filmt. Ein Debütfilm von Tobias Nölle mit Georg Friedrich (Panorama).
Ein fließender Wasserhahn, ein geöffneter leerer Kühlschrank in einer unmöblierten Wohnung. In einem der Zimmer liegt eine angeschaltete Videokamera am Boden, kein Mensch weit und breit. Als nächstes sieht man Videobilder eines aufgebahrten alten Mannes im Sarg, daneben ein Kranz mit dem Schriftzug „Dein Sohn Aloys“. Schließlich sieht man auch den Kameramann, es ist Aloys, allein mit seinem toten Vater.
Schon die ersten Bilder umrahmen deutlich das Thema von „Aloys“, dem Debütfilm des Schweizer Regisseurs Tobias Nölle. Aloys, der soeben seinen Vater verloren hat, ist Privatdetektiv bei Adorn & Sohn, Privatermittlung. Die Sohnesfunktion, die das Familienunternehmen im Titel trägt, ist dem Sohn deutlich eingeschrieben. Bisher existierte er lediglich als ein Attribut seines Vaters. Wenn er mit anderen Menschen spricht, was nicht oft vorkommt, verwendet er ausschließlich das „wir“ und flüchtet sich in unpersönlich-bürokratische Floskeln, die jeden Anflug von Subjektivität aus seinen Worten tilgen.
Aloys Adorn hat schon von Berufs wegen wenig von seiner Persönlichkeit preiszugeben. Er beobachtet und filmt im Auftrag seiner Kunden andere Menschen, wie den untreuen Ehemann, der mit seiner heimlichen Geliebten ein Kind erwartet.
Das abgetrennte Gedächtnis
16. 2., 21.30 Uhr, Zoo Palast 1; 17. 2., 13 Uhr, CinemaxX 7; 18. 2., 17 Uhr, Cubix 9; 21. 2., 20 Uhr, International.
Berlinale 2016
Selbst sein eigenes Leben hält er mit der Kamera fest und betrachtet allein zu Haus immer wieder die Aufnahmen, auf denen vor allem sein Vater zu sehen ist, eine Art externalisiertes Gedächtnis, das sich erst in den von ihm abgetrennten Bildern manifestiert.
Bei einer Observation wird er versehentlich enttarnt, betrinkt sich anschließend im Bus nach Hause und wacht am nächsten Morgen an der Endhaltestelle auf. Und seine Kamera samt Videokassetten sind weg.
Schien „Aloys“ bis dahin vorwiegend an der Konstruktion von Wirklichkeit durch Bilder interessiert, kommt nun der Ton als weitere Fantasieebene hinzu: Denn Aloys erhält fortan Anrufe von einer Unbekannten (Tilde von Overbeck), die sich als die Diebin seines Videoarchivs herausstellt, die zugleich aber ein verstärktes Interesse an fernmündlicher Kommunikation hat: „Die Stimme ist die Schnittstelle unserer Gedanken“, lautet einer der kryptischen Sätze, die sie Aloys mitteilt.
Von da an beginnt sich die Vorstellungswelt von Aloys und seiner anonymen Gesprächspartnerin zunehmend von der übrigen Wirklichkeit zu entkoppeln. Das wird im Bild mit abrupten Montagen erzählt, in denen sich Menschen schon mal in Tiere verwandeln oder die zwei räumlich getrennten Telefonierer sich unversehens im Wald gegenüberstehen. Vor allem aber ist es der virtuos gestaltete Ton, der diesen Realitätsverlust abbildet und alle Geräusche, die Aloys wahrnimmt, bis hin zu seinem eigenen Atem, mit überdeutlicher Schärfe ins Surreale steigert.
Verstörtes Vatersöhnchen
Irgendwann wird klar, dass die beiden ein ernsthaftes Problem haben, wenn auch nicht unbedingt das gleiche. In einer Szene etwa betrachtet Aloys die Videoaufnahmen einer Party in seiner Wohnung, die jedoch ausschließlich in seinem Kopf gefeiert wurde. So beginnen die zwei Ebenen von äußerer Welt und medieninduziertem Wahn im Film mehr und mehr ineinanderzugreifen. Was mitunter überstrapaziert wirkt.
Seinen Protagonisten nicht unähnlich, verliert sich der Film allmählich in diesem Trip, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Wobei Georg Friedrich das menschenscheue Vatersöhnchen mit so beherrschter Verstörtheit spielt, dass man dem Film seine selbstverliebten Momente gern verzeiht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!