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Kommentar Grüne und AsylrechtDie Grenzen des Pragmatismus

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die Grünen könnten zustimmen, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Auf wessen Nein ist dann noch zu hoffen?

Links im Bild: die wohl bald sicheren Herkunftsstaaten Marokko und Algerien Foto: dpa

I n Marokko gab es, wie Amnesty International im letzten Jahr feststellte, 173 Fälle von Folter. In Algerien wurde 2014 eine Protestbewegung gegen den Präsidenten gewaltsam unterdrückt. Die Große Koalition in Berlin will beide Ländern zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Und die Grünen in Baden-Württemberg und Hessen sind wohl drauf und dran, zuzustimmen.

Es ist legitim, Asylfragen nicht nur moralisch, sondern auch politisch zu betrachten und Vor- und Nachteile abzuwägen. Die Menschenrechtslage ist vielerorts bedrohlicher als im Maghreb. Das zentrale Argument für die Verschärfung lautet, dass ja ohnehin nur ein paar Prozent der Flüchtlinge aus dem Maghreb anerkannt werden. Und künftig wird eben schneller entschieden.

Die Union sendet schon seit Längerem nicht mehr die Botschaft „Wir schaffen das“, sondern „Wir tun was, um Flüchtlinge abzuschrecken“. Damit hat Merkel auf die dramatisch gekippte Stimmung reagiert. Wenn man den Talkshows folgt, muss man sich wundern, dass hierzulande noch Straßenbahnen fahren und Schulen öffnen.

Die Große Koalition will nun durchgreifen. Allerdings ist es fraglich, ob diese Art von Aktivismus viel nutzt. Aus dem Maghreb stammen etwa zwei Prozent der Flüchtlinge. Es kann durchaus sein, dass mit markigen Worten intonierte symbolische Abschreckungspolitik, ohne dass die Zahl der Flüchtlinge sinkt, den Rechtspopulisten erst recht nutzt.

Kretschmann und Al-Wazir wollen Deal

Die Grünen Winfried Kretschmann und Tarek Al-Wazir wollen den Plänen der Großen Koalition wohl zustimmen – und dafür einen sicheren Status für ein paar Tausend geduldete Flüchtlinge erreichen, die schon einige Jahre hier leben. Das ist sinnvoll, auch wenn dies wohl kein Einstieg in eine weiträumige Legalisierung von Illegalen ist.

Kretschmann und Al-Wazir handeln damit politisch. Sie wollen einen Deal machen. Die Union kann sich als tatkräftige Regierung präsentieren, die grünen (Vize-)Ministerpräsidenten erscheinen als gestandene Realpolitiker, die das Mögliche umsetzen.

Wenn heute Marokko als sicher gilt, warum nicht morgen Afghanistan?

Doch das Problem ist grundsätzlich. Das Asylrecht hat einen Kern, der dem Geben und Nehmen pragmatischer Politik entzogen sein muss. Wenn man es unter dem Aspekt politischer Nützlichkeit verhandelt, dann löst es sich auf. Wenn heute Marokko als rechtsstaatlich akzeptabel gilt, warum nicht morgen Pakistan, Russland, Afghanistan? Und wenn die Grünen zu dieser Logik Ja sagen, auf wessen Nein ist dann noch zu hoffen?

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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4 Kommentare

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  • Wird auch die USA auf die Liste der sicheren Herkunftsländer gesetzt? Bei der Anzahl von Folter und rassistischen Morden, auch durch Polizisten, habe ich Zweifel.

  • Das grundgesetzliche Asylrecht wurde ja im Prinzip bereits 1993 mit der Einführung des neuen "Asyl-Artikels" 16a abgeschafft, der die Drittstaaten-Regelung einführte, mit der das Dublin-Abkommen vorbereitet wurde, um eventuelle Lasten in Bezug auf Flüchtlinge komplett auf die Staaten an den EU-Außengrenzen abwälzen zu können.

    So gelang es der deutschen Politik lange, die sich verschärfende Situation einfach zu ignorieren und Aufnahmekapazitäten wegzusparen.

    Der seit langem abzusehende Zusammenbruch dieses Systems der Antisolidarität traf die GroKo trotzdem unvorbereitet.

    Mit dem Asylpaket II will vor allem die Union ihre längst gescheiterte Politik der Abgrenzung und Abwälzung nun fortsetzen. Angesichts des ausgehöhlten Asylrechts, der faktischen Mehrheitsverhältnisse und der über Monate von vielen Medien geschürten Stimmung im Land wird sich dies nicht mehr verhindern lassen. Solange es das Konstrukt der "sicheren Herkunftsländer" gibt und dieses durch Art. 16a GG abgedeckt wird, wird zumindest die Aufnahme Marokkos und Tunesiens früher oder später kommen.

    Da ist es durchaus sinnvoll, herauszuhandeln, was möglich und sinnvoll ist. Und sinnvoll ist eine Altfall-Regelung für die vielen verschleppten Verfahren allemal, genauso wie ein genereller Abbau von bürokratischen Hemmnissen für eine schnelle Anerkennung jener, die eine klare Bleibeperspektive haben, ob nun aus politischen oder rein humanitären Gründen.

  • Asylrecht ist im Kern der Schutz von Leib und Leben. Es beinhaltet nicht das Recht auf Asyl in einem bestimmten Land. Es geht auch bei Asyl nicht um Wohlstand. Daher auch die Drittstaatenregelung in der EU. Und es geht um Schutz auf Zeit.

    Fällt der Asylgrund weg, dann auch der Asylstatus.

    Gegenwärtig werden die Komponenten Asyl, Einwanderung, Schutz und Wohlstand zu einem unerquicklichen Brei zusammengemengt. Das liegt vor allem an einer nicht vorhandenen Einwanderungsregelung.

  • Politikwissenschaftler behaupten, Politik sei als: "Gesamtheit aller Interaktionen definiert, die auf die autoritative [durch eine anerkannte Gewalt allgemein verbindliche] Verteilung von Werten [materielle wie Geld oder nicht-materielle wie Demokratie] abzielen".

     

    Damit ist die Grenze der Politik definiert: Wenn's alle ist, hört's auf. Keine Gewalt dieser Welt kann – Autorität hin oder her – verteilen, was es nicht gibt. Schon gar nicht verbindlich.

     

    Überhaupt ist die Verbindlichkeit ein größeres Problem für Politiker. Verbindlichkeit bezeichnet nämlich die "Konsequenz, Ausdauer bzw. Standhaftigkeit, mit der eine Person – teils unter widrigen Umständen – zu einer Zusage oder Absichtserklärung steht [...], die sie einer anderen Person oder anderen Personen gemacht hat". Menschen, die selbst nie ein Zusage abgegeben oder eine Absicht erklärt haben, werden eine Teufel tun, dazu zu stehen. Ein Politiker aber, dessen Zusagen nicht von einer größeren Anzahl an Wählern umgesetzt werden, ist ein General ohne Armee. Er hat keine Autorität anderen Generälen gegenüber.

     

    Genau deswegen ist das, was Kretschmann, Al-Wazir und Palmer gerade treiben, grundfalsch. Ohne Not (wie endlich ist Demokratie?) signalisiert es eine drastische Verknappung materieller und immaterieller Werte. Damit reduziert es zwangsläufig die Bereitschaft der Bevölkerung zum Teilen. Was auch immer also im Gegenzug versprochen wird dafür – es ist das Papier nicht wert, auf das man es schreibt, weil kaum jemand es wird tragen wollen in Zukunft.

     

    "Politisches Handeln", weiß das Lexikon, ist "soziales Handeln". Das Handeln gewisser grüner Spitzen-Funktionäre ist nicht sozial, sondern asozial. Es führt direkt in den Konflikt. Politisch ist das unnütz, nicht nützlich. Das Asylrecht ist genau das Gegentei davon. Es ist die pure Menschlichkeit. Kein Wunder also, dass Kretschmann, Al-Wazir und Palmer nicht dazu stehen wollen.