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„So leben, wie wir auch“

Diskussion Großunterkünfte befördern sexuelle Gewalt gegen geflüchtete Frauen, sagt Lydia Potts

Foto: Foto Schmidt GmbH
Lydia Potts

58, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg mit dem Schwerpunkt Arbeitsmigration

taz: Frau Potts, wann haben Sie zuletzt eine Flüchtlingsunterkunft besucht?

Lydia Potts: Das ist länger her, bestimmt schon ein oder zwei Jahre. Ich habe mich mit dem Thema Frauen auf der Flucht besonders intensiv in den 90er-Jahren beschäftigt, weil ich darüber ein Buch geschrieben habe. Deshalb war ich auch häufiger in Flüchtlingsunterkünften.

Von welchen Problemen haben die Frauen dort berichtet?

Ein sehr großes Problem ist, dass die Frauen in den Großunterkünften keine Privats- und Intimssphäre haben. Die meisten Flüchtlinge sind traumatisiert und das erschwert die Organisation des Alltags sehr, gerade auf so engem Raum. Häufig entstehen soziale Spannungen. So kommt es zu Konfliktsituationen und Gewalt, auch sexueller Natur.

Ist diese Enge für Frauen problematischer als für Männer?

Es geht mir nicht darum, zu sagen, die Situation sei für Männer einfach. Ich will sie auch nicht als Täter oder Verfolger abstempeln. In diesen Unterkünften herrscht aber eine dauerhafte Ausnahmesituation, in der jede soziale Sicherheit wegfällt. Für Frauen ist das problematischer, weil sie sich in Konfliktsituationen schlechter wehren können – gerade bei sexueller Gewalt. Ihnen widerfährt diese Form der Gewalt auch häufiger.

Was können die Flüchtlingsunterkünfte dagegen unternehmen?

Meistens ist die Gewalt, die gegenüber Frauen ausgeübt wird, sehr subtil. Wenn sie in der Essensschlange angefasst werden oder anzügliche Bemerkungen fallen, kann man nur schwer intervenieren. Inzwischen gibt es zum ersten Mal ernsthafte öffentliche Diskussionen, wie dagegen vorgegangen werden kann. Ich glaube, das Problem liegt bei den Unterkunftsbedingungen.

Was sollte sich bei der Unterbringung verändern?

Eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge würde einiges verbessern. In diesen großen Lagern leben so viele einander fremde Menschen auf engem Raum, dass es viel schneller zu Übergriffen kommt. Am besten wäre es, wenn die Flüchtlinge in kleineren Einheiten untergebracht würden, in denen sie mit Menschen aus ihrem sozialen Nahbereich zusammen sind – also in Wohnungen. Dann könnten sie so leben, wie wir auch.

Interview: Antonia Stille

Lydia Potts diskutiert mit Sabine Hess (Uni Göttingen), Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Uni Gießen) und einer Vertreterin der Initiative Women in Exile über „Frauen auf der Flucht – Leerstellen aktueller Flüchtlingsdiskurse“: 19 Uhr, Universität, Von-Melle-Park 9, Raum S 30

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