piwik no script img

Missbrauch nicht verhindert„Bislang nicht aufgefallen“

Die sexuellen Übergriffe eines psychisch Kranken auf zwei Mädchen hätten vielleicht verhindert werden können – wenn die Kieler Behörden besser kooperiert hätten.

Hier sprach der mutmaßliche Vergewaltiger sein zweites Opfer an: Hof der Grundschule in Kiel-Gaarden. Foto: Lukas Schulze/dpa

KIEL taz | Freunde hat sich Axel Bieler damit nicht gemacht: „Wir sind nicht für psychisch kranke Menschen zuständig“, so sagte es Kiels Oberstaatsanwalt jüngst mit Blick auf zwei Fälle sexuellen Missbrauchs, geschehen am 6. und 31. Januar an einer Kindertagesstätte sowie einer Grundschule in Kiel-Gaarden. Der Jurist rührt damit am wunden Punkt der Vorfälle: Hätten die Behörden, also Gesundheitsamt, Polizei und Staatsanwaltschaft zumindest die zweite Tat verhindern können?

Spätestens seit dem 18. Januar nämlich hätten sie wissen müssen von der Instabilität des 30-jährigen Verdächtigen. Zumal sie eine wichtige Informantin hatten: die Mutter des Mannes, die dem Gesundheitsamt seit dem 5. Januar mehrfach mitgeteilt hatte, dass ihr psychisch kranker Sohn seine Medikamente abgesetzt habe und gefährlich sei. Das Amt verwies die Frau an die Polizei. Diese fasste den Mann erst, nachdem er am 6. Januar eine Fünfjährige sexuell missbraucht hatte. Weil das Kind widersprüchliche Angaben zur Tatzeit gemacht habe, „konnte man seiner nicht habhaft werden“, sagt Annette Wiese-Krukowska, Sprecherin der Stadt Kiel. So verhörte man den 30-Jährigen – und ließ ihn laufen. Inzwischen kritisieren auch Nachbarn und der Direktor der Grundschule, dass die Polizei sie nicht informierte.

Am 31. Januar dann soll sich der Mann an einer Siebenjährigen vergangen haben: einem Nachbarskind, das er auf dem Schulhof angesprochen und in seine Wohnung gelockt habe. Dort zog sich das Mädchen so schwere Verletzungen zu, dass es notoperiert werden musste. Zwei Tage später fasste die Polizei den 30-Jährigen; er sitzt seither in Untersuchungshaft.

Warum aber schrillten nicht alle Alarmglocken, als eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamts am 18. Januar von der Kriminalpolizei erfuhr, dass der 30-Jährige wegen Missbrauchs gesucht werde? „Das war die Ausfahrt, an der man hätte abbiegen müssen“, so hat es Kiels Sozialdezernent Gerwin Stöcken später gesagt. Aber wie? Die Behördenmitarbeiterin handelte formal korrekt: Sie lud den Mann vor – schriftlich. Denn er war seit 2009 als Aggressor aktenkundig und zudem nach einem Sprung aus dem vierten Stock im Jahr 2014 auch als suizidgefährdet.

Nur: „Als Pädophiler war er bislang nicht aufgefallen“, sagt Stadtsprecherin Wiese-Krukowska, „deshalb hätte die Mitarbeiterin mehr tun müssen.“ Es ihrem Chef melden etwa, damit der bei der Polizei Druck macht und die den 30-Jährigen festnimmt. Es unterblieb.

Andererseits ist da das gleichfalls juristisch korrekte Handeln von Oberstaatsanwalt Bieler: „Da der Mann nicht vorbestraft, sondern lediglich wegen Diebstahls aktenkundig war, gab es keine Grundlage für einen Haftbefehl“, sagt er. Schließlich habe auch die Mutter „ausschließlich Angaben über die Selbstgefährdung ihres Sohnes gemacht“. Die Kriminologin Monika Frommel von der Kieler Universität sieht das anders: Speziell für sexuelle Missbrauchsfälle gebe es den Haftgrund der Wiederholungsgefahr. „Ich kann nicht erkennen“, sagt sie, „was da zweifelhaft gewesen sein soll.“

Die Mutter des Beschuldigten fühlt sich nicht ernst genommen – und umso mehr verantwortlich: „Ich weiß, dass er krank ist“, hat sie gesagt. Deshalb wolle sie „über die Abläufe informieren und mich bei allen entschuldigen, denen mein Sohn Leid angetan hat“. Kiels Sozialdezernent Stöcken entschuldigte sich zwar nicht, sagte aber: „Wir hätten dem Mädchen eine ganz schwere Erfahrung ersparen können.“

Wir hätten dem Mädchen eine ganz schwere Erfahrung ersparen können

Gerwin Stöcken, Sozialdezernent

Damit sich so etwas nicht wiederholt, hat Kiels Oberstaatsanwältin Birgit Heß für kommenden Donnerstag Sozialdezernent und Polizeichef eingeladen. Gemeinsam wollen sie überlegen, wie ihre Ämter besser kooperieren können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!