: Wie ein Sommerregen auf trockenem Feld
Tennis Für Angelique Kerber beginnt nach ihrem Sieg über Serena Williams in Melbourne eine neue Ära ihres Profilebens. Dochdie 28-Jährige ist darauf vorbereitet. Immer hat sie gewusst, dass sie irgendwann einmal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen wird
aus Melbourne Doris Henkel
Es war Ende Mai 2014 während der French Open in Paris, einem der vier größten Tennisturniere der Welt. Da saß Benjamin Ebrahimzadeh an einem Tisch im Spielerrestaurant und unterhielt sich mit der deutschen Bundestrainerin und Fed-Cup-Chefin Barbara Rittner über Angelique Kerber, die er seinerzeit trainierte. Die Kielerin hatte gerade ein Spiel gewonnen, am Tisch herrschte Zufriedenheit, aber Ebrahimzadeh sprach wieder mal aus, was er schon oft beobachtet hatte: „Die weiß gar nicht, was sie alles kann.“
Nun, das Problem scheint gelöst zu sein. Mit dem grandiosen Sieg bei den Australian Open am Samstag in Melbourne gegen Serena Williams in einem Spiel voller Hingabe und Entschlossenheit gewann Kerber nicht nur den ersten Grand-Slam-Titel ihrer Karriere, sie wird in der neuen Weltrangliste, die heute erscheint, auch so weit vorn stehen wie nie eine deutsche Spielerin außer Steffi Graf – auf Platz zwei.
Am Morgen nach dem großen Sieg, mit dem sie 15.000 Zuschauer im Stadion und Millionen weltweit an den Fernsehschirmen begeistert hatte, ging es ihr so, wie es jemandem geht, der kaum geschlafen hat und der die Folgen der Nacht nun in den Knochen spürt. „Ich bin so fertig“, stöhnte sie und ließ sich auf eine Bank fallen, „was mach ich jetzt?“ Drei Stunden hatte der Pressemarathon nach ihrem Sieg gedauert, von einem Fernsehstudio war sie ins nächste geführt worden, und nach der Dopingprobe war sie erst gegen drei Uhr nachts im Hotel gelandet.
Danach war sie mit ihrem 2015 ins Team zurückgekehrten Trainer Torben Beltz und Physiotherapeut Simon Iden in einen Nachtclub losgezogen. Es war schon hell, als die Feiergruppe Kerber wieder im Hotel ankam, doch da stand schon der nächste Termin auf dem Programm. Fahrt zum Yarra, Melbournes Fluss, weitere Fernsehinterviews und danach ein Sprung in den Fluss: Zwei Wochen zuvor hatte sie bei Aufnahmen für Eurosport mit Moderator Matthias Stach gewettet, im Falle des Turniersieges ins Wasser zu springen wie einst der Amerikaner Jim Courier. Was man halt so sagt, wenn man gerade guter Laune ist.
Novak Djokovichat zum sechsten Mal die Australian Open in Melbourne gewonnen. Der Weltranglisten-Erste besiegte am Sonntag den Schotten Andy Murray mit 6:1, 7:5, 7:6 (7:3). Djokovic verteidigte damit seinen Titel aus dem Vorjahr. Für Murray war es dagegen im fünften Finale in der Rod Laver Arena die fünfte Niederlage, vier davon kassierte er gegen Djokovic. Der von Boris Becker trainierte Djokovic verwandelte nach 2:53 Stunden seinen dritten Matchball. Im Halbfinale hatte der Serbe bereits den Schweizer Roger Federer ausgeschaltet und dabei den Rekord-Grand-Slam-Turnier-Sieger phasenweise vorgeführt.
Für das breite Publikum war Kerber ein bisschen vom Radar verschwunden im Jahr 2015, obwohl sie vier Titel gewonnen hatte. Zu lange lagen ihre bisher größten Erfolge zurück, die Halbfinals bei den US Open 2011 und in Wimbledon im Jahr danach. 2011 war das Jahr der Wende in der Karriere der Angelique Kerber. Nach einer Serie von Niederlagen, verbunden mit einer großen Portion Ratlosigkeit, hatte sie sich damals von Andrea Petkovic überreden lassen, in Offenbach in der Akademie der ehemaligen Profis Rainer Schüttler und Alexander Waske zu trainieren – schon wenige Wochen später spielte sie zu ihrer großen Überraschung im Halbfinale in New York. Danach meinte sie, das sei der Anfang von etwas Neuem gewesen, und in Wimbledon im Jahr danach bestätigte sie diesen Eindruck.
Doch das Neue wurde älter, und es kam nichts dazu. Dass sie danach konstant zu den besten zehn des Frauentennis gehörte, wurde in Deutschland nur am Rande registriert. Irgendwie spielte sie nicht in der ersten Reihe; oft verschwand sie hinter der Eloquenz von Andrea Petkovic und der Extrovertiertheit von Sabine Lisicki.
Aber sie glaubte an sich. „Ich habe mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, so ein Turnier wie hier in Melbourne zu gewinnen“, sagte sie in der Morgensonne am Fluss, „und ich wusste: Eines Tages bist du so weit.“ 2014 erreichte sie vier Finals und verlor alle vier; 2015 erreichte sie vier Finals und gewann alle vier. Offensiv suchte sie sich ihre Ziele für die neue Saison aus, nun kann man sich vorstellen, dass es ein sehr interessantes Jahr werden kann, für Angelique Kerber und das deutsche Tennis.
Während des Turniers feierte sie ihren 28. Geburtstag; das ist heutzutage ein ganz normales Alter im Spitzentennis für große Sieger. Die Zeit der Grafs, Seles’ und Capriatis, die schon als Teenager brillierten, ist vorbei; das Spiel ist anspruchsvoller geworden, und es dauert länger, bis zur Spitze zu gelangen.
Kerber hat nicht das Gefühl, zu spät dran zu sein, ganz im Gegenteil. Vor ein, zwei Jahren wäre sie noch nicht reif gewesen für diesen Erfolg, sagt sie, hätte ihn nicht so genießen können wie heute. Wichtig sei, auf dem langen Weg die eigenen Sichtweise zu bewahren. Einer der Ratschläge, die sie im vergangenen Jahr von Steffi Graf bei einem Besuch in Las Vegas bekommen hatte, war: Versuch es auf deine Art, bleib dir treu, egal, was die anderen sagen.
Bei der Pressekonferenz nach ihrem Grand-Slam-Sieg füllte Kerber den Raum mit sprudelndem Glück und ihrer Persönlichkeit auf eine Art, die man sich vor einem halben Jahr noch nicht vorstellen konnte. Sie schwärmte, der Titel allein sei schon der Wahnsinn, ihn aber in einem großen Spiel gegen die noch größere Serena Williams gewonnen zu haben, mache die Sache erst perfekt. „Ich bin Grand-Slam-Siegerin und Nummer zwei der Welt.“
Sie ist darauf vorbereitet, dass sich ihr Leben nun ein wenig ändern wird. Am Dienstag wird sie in Leipzig zu einem Spiel der deutschen Mannschaft gegen die Schweiz im Fed Cup erwartet, und es wird sich alles um die große Siegerin drehen. Sie sagt, sie freue sich auf jeden Schritt der nächsten Wochen und Monate, obwohl sie sich natürlich auch denken kann, dass ihr nicht alles gleich gut gefallen wird. Einstweilen findet sie es schön, erkannt zu werden, zumal wenn es auf eine so entspannte Art passiert wie am letzten Tag ihres Aufenthaltes in Melbourne. Auf wackeligen Beinen, oben aber dennoch bemerkenswert souverän, erledigte sie am Sonntagmorgen die Aufgabe mit den Fernsehinterviews am Fluss. Zwischendurch kam ein Rudervierer, besetzt mit älteren Damen, vorbei, die nach einem Blick auf die Versammlung am Ufer die Blätter sinken ließen, winkten und riefen: „Congrats, well done.“
Für den Tennissport in Deutschland, so viel ist abzusehen, dürfte der Triumph von Melbourne so viel wert sein wie Sommerregen auf einem Feld voller Furchen. Hierzulande gibt es für Aufmerksamkeit im Sport – lassen wir mal den Fußball außen vor – offenbar nur eine einzige Brücke, den Erfolg. Das trifft sicher nicht auf die Einschätzung eines Fachmannes wie Michael Stich zu, den Wimbledon-Sieger von 1991. Der schwärmte nach dem Finale: „Ich freue mich riesig für Angie und habe offen gestanden auch eine kleine Freudenträne verdrückt.“ Ein zu Tränen gerührter Wimbledon-Sieger – das ist ein wunderschönes Kompliment.
Und eine Reaktion aus der Fußballbranche zeigt, dass auf einmal wieder ein kleines Feuer brennt. Der ehemalige Profi Hans Sarpei übermittelte nach dem Finale eine Botschaft auf Twitter, in der steht: „Und dann kommt der Moment, in dem du wieder zehn Jahre bist und vor dem Fernseher mitfieberst.“ Darum geht’s.
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