: Von der Menschlichkeit hinter dicken Mauern
JUSTIZ Das Uraltgefängnis Tegel wirkt wie eine Festung, das neue in Heidering gläsern und transparent. Warum wollen viele Häftlinge trotzdem lieber in Tegel bleiben? Zu Besuch in zwei Knästen
■ Tegel (Istzustand): 1898 eröffnet als Königliches Strafgefängnis. Das „königlich“ fiel nach 1918 weg, nach 1945 „Strafanstalt“ , und ab 1977, nach Einführung des Strafvollzugsgesetzes, Justizvollzugsanstalt. Fläche: 131.805 Quadratmeter Haftplätze: 1.296 Zellengröße: 6,4 bis 10,0 Quadratmeter Zahl der Beschäftigten: 800
■ Heidering: Erste Gefangene kommen im April Fläche: 155.000 Quadratmeter Haftplätze: 648 Zellengröße: 10,3 Quadratmeter Zahl der Beschäftigten: 217
VON PLUTONIA PLARRE
Tristesse, sagt der frühere Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne). Morbider Charme, sagt der Strafgefangene Dieter Wurm. Eine Burg, sagt der Rechtsanwalt und Vollzugsexperte Olaf Heischel. Es sind düstere Bilder, die von der Haftanstalt Tegel gezeichnet werden. Der einzige, der dem Knast Positives abgewinnen kann, ist Gefängnisleiter Ralph-Günter Adam. „Tegel ist eine schöne Anstalt“, findet er. „Es gibt viel Grün und herrliche alte Bäume.“
Tegel, das ist Deutschlands größtes Männergefängnis. Eine uralte Anstalt, verborgen hinter hohen Gefängnismauern. Auf einer Fläche von 17 Fußballfeldern befindet sich eine Stadt in der Stadt. 1.300 Männer sitzen dort ein. Es gibt Werkstätten, Ausbildungs- und Versorgungsbetriebe, eine Kirche. Gerade wird auf dem Gelände eine neue Teilanstalt für die Sicherungsverwahrung gebaut. Insgesamt gibt es sechs Teilanstalten – so heißen die Zellenhäuser. Viele Insassen verbüßen lange Haftstrafen, sie haben Gewalt- und Sexualstraftaten begangen. Aber nur wenige sind länger in Tegel als Ralph-Günter Adam.
Der 64-Jährige ist seit fünf Jahren Anstaltsleiter. 1977 hat er hier als Sozialarbeiter angefangen. Wer mit dem Mann mit dem Lockenkopf durch das Gefängnis geht, merkt schnell: Das ist keiner von der Sorte Beamter, die sich hinter Akten und Paragrafen verschanzen. Der Mann sucht den Kontakt zu den Menschen, und die Menschen suchen den Kontakt zu ihm – Gefangene und Bedienstete gleichermaßen.
Ende der 70er Jahre herrschte in Deutschlands Knästen Aufbruchstimmung. Diese Zeit hat Adam geprägt. Im Strafvollzugsgesetz wurde der Anspruch auf Behandlung und Resozialisierung verankert. Sozialarbeiter und Psychologen fingen an, mit den Insassen zu arbeiten. Vollzugslockerungen wie Ausgang und Urlaub wurden erprobt. Bis dahin waren Gefängnisse Verwahranstalten gewesen. Es hatte keine verbrieften Rechte auf Wiedereingliederung gegeben.
Den Häftlingen zuwenden
Adam war es, der in Tegel das Wohngruppenmodell einführte. Die Zellen wurden tagsüber geöffnet, kleine und große Gruppen diskutierten. „Es ging darum, soziale Kompetenz zu erlernen“, erklärt Adam. Sich den Häftlingen zuwenden war seine Leitlinie. „Nur so kann man Menschen motivieren, sich zu verändern.“ Über sich selbst sagt er: „Ich bin ein Fossil aus einer anderen Zeit.“ Es klingt resigniert.
Leute wie Adam gibt es nur noch wenige im Berliner Strafvollzug. Das ist nicht nur eine Altersfrage. Die Philosophie hat sich verändert: Gefangenen Empathie entgegenbringen – kaum etwas ist heutzutage unpopulärer. Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und Effizienz bestimmen das Denken. Das beste Bespiel ist die neue Berliner Männerhaftanstalt Heidering, die jetzt im brandenburgischen Großbeeren den Betrieb aufnimmt. Die Anstalt, errichtet auf dem Gelände eines ehemaligen Berliner Stadtgutes, ist darauf angelegt, mit deutlich weniger Personal als die alten Knäste auszukommen. Eine Folge: Es gibt noch weniger Ansprechpartner für die Insassen.
Aber Heidering bedeutet noch mehr: Die Berliner Gefängnislandschaft sortiert sich neu. Vor allem für Tegel hat das Auswirkungen. Strafvollzugsexperten befürchten, dass Heidering zur Vorzeigeanstalt wird und Tegel Resterampe für hoffnungslose Fälle. Wenn Heidering komplett in Betrieb ist, soll die Zahl der Insassen in Tegel von 1.300 auf 950 reduziert werden. Die Teilanstalt III – 1898, also noch zu Kaiserzeiten gebaut – wird geschlossen.
Ende des 19. Jahrhunderts lautet die Philosophie: Kriminalität ist ansteckend. Man separierte die Strafgefangenen in kleinen, düsteren Zellen. Etliche davon sind bis heute belegt. Das Klo befindet sich direkt neben dem Bett. Immer wieder gab es deshalb Klagen. Aber erst als der Berliner Verfassungsgerichtshof 2009 die Unterbringung auf 5,25 Quadratmetern für menschenunwürdig erklärte, wurde das Schlimmste der alten Häuser – die Teilanstalt I – zugemacht.
Der Gefangene Dieter Wurm ist in der Teilanstalt III untergebracht. Von 1955 bis 1968 war das Haus ein Zuchthaus – ein stärker gesichertes Gebäude für Insassen mit besonders langen Haftstrafen. Bis heute befinden sich in dem Haus die Langstrafer und Lebenslänglichen. Der 55-jährige Wurm sitzt mit Unterbrechungen seit 1987 in Tegel. Im Haus III kehre nie Ruhe ein, sagt er. „Es schreit und brüllt. Selbst nachts gibt es nicht eine Sekunde Stille.“
Die Haare von Dieter Wurm sind im Gefängnis grau geworden, der linke Schneidezahn fehlt. „Ich bin eine alte Haftjacke“, sagt er über sich selbst. In seinem früheren Leben hat Wurm Banken ausgeraubt. Beim letzten Mal kidnappte er auf der Flucht einen BVG-Doppeldecker-Bus samt Fahrgästen. Das brachte ihm elf Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung ein. Ob er die antreten muss, entscheidet sich 2016. Dann läuft seine Haftstrafe aus.
Wurm sieht fast alles
Wer wissen will, wie Tegel funktioniert, sollte mit Wurm sprechen. Er ist Chefredakteur der Gefangenenzeitschrift Lichtblick. Als solcher hat der Gefangene das große Privileg, sich frei in der Anstalt bewegen zu können. Fast nichts bleibt Wurm verborgen. Der Lichtblick ist Deutschlands einzige unabhängige Gefangenenzeitschrift. Das Blatt existiert seit 44 Jahren. Selbst Anstaltsleiter Adam bekommt die aktuelle Ausgabe erst nach dem Druck. „Wir verstehen uns als Sprachrohr der Gefangenen, aber auch als Mittler und Pfuffer“, beschreibt Wurm die Rolle der Zeitschrift.
In Tegel, sagt er, liege zwar vieles im Argen. „Aber es ist nicht alles Scheiße“. Eigentlich sei Tegel „ein recht menschlicher Miniplanet“. 37 Prozent der Insassen haben einen Migrationshintergrund, 60 Nationen sind vertreten. Wie bei Knästen dieser Größenordnung üblich, gibt es einen florierenden Schwarzmarkt. Die vielen Lastwagen, die die Anstalt täglich beliefern, sind kaum bis in den letzten Winkel zu kontrollieren. Vom Tabak über Handys bis zu Heroin – wer will, kriegt alles. „Klar kommt es vor, dass die Dealer den Junkies eins auf die Fresse hauen“, sagt Wurm. „Aber so eine Brutalität wie in anderen Knästen gibt es in Tegel nicht.“
Skandale? Fehlanzeige
Gewaltexzesse wie in der Justizvollzugsanstalt Siegburg, wo 2006 ein Insasse von Mithäftlingen stundenlang misshandelt und dann getötet wurde, hat es in Tegel nie gegeben. Fluchtversuche? Andere Skandale? Fehlanzeige. Die einzige Geiselnahme in der jüngeren Geschichte entpuppte sich als Liebelei. Ein Gefangener hatte sich mit einer Bediensteten in eine Zelle zurückgezogen. Just in dem Moment wurde von außen die Tür verriegelt. Als Ausweg blieb den Eingeschlossenen nur, eine Geiselnahme vorzutäuschen.
Szenenwechsel. Großbeeren befindet sich im Süden von Berlin. Nach der Abfahrt von der Autobahn geht es durch ein Industriegebiet. Eine gefühlte Ewigkeit schlängelt sich die Straße durch Felder und Wiesen. Aus dem Nichts taucht hinter einer Kurve ein sandfarbener Neubaukomplex auf. Heidering.
Eine Gruppe von Journalisten im Schlepptau stiefelt Anke Stein über die Baustelle. Die 42-jährige Juristin wird den neuen Knast leiten. Jetzt im Januar startet der Probebetrieb. Die ersten Gefangenen werden im März erwartet. Ende 2013 soll die Anstalt mit 648 Berliner Häftlingen voll belegt sein. Heidering ist auf Gefangene zugeschnitten, die maximal fünf Jahre Haft verbüßen. Mit wolkigen Worten erklärt Anke Stein an diesem tristen Dezembertag das Konzept der neuen Anstalt. Immer wieder fällt der Begriff „Transparenz“. Aber was in Heidering passieren soll, bleibt unklar.
Mit 10,3 Quadratmetern sind die Zellen hier fast doppelt so groß wie die in den alten Tegeler Teilanstalten. Die Räume sind hell, die Fenster gehen fast bis zum Boden. Jede Zelle verfügt über eine abgetrennte Toilette und Waschbecken. Die Anlage indes ist darauf ausgelegt, mit deutlich weniger Personal als Tegel über die Runden zu kommen. Zum Beispiel werden die Häftlinge auf ihren Wegen durch die Anstalt nicht mehr von Beamten begleitet, sondern von Kameras überwacht.
Zaun statt Mauer
In Heidering gibt es viel Glas. Alles ist licht und transparent, selbst die 1,7 Kilometer lange und 6 Meter hohe Doppelzaunanlage, die das Grundstück anstatt einer Mauer umgibt. „Die Insassen sollen die Freiheit sehen“, sagt Anke Stein. „Das ist psychologisch gewollt“.
Nur: Was wird aus Tegel? Berlins Haushaltskasse ist leer, im Strafvollzug sollen weitere Stellen gestrichen werden. Wenn die alten Teilanstalten schließen, muss Tegel zudem einen Teil der Beamten nach Heidering abgeben. Wer muss gehen? Die Verunsicherung ist groß. Und der Krankenstand bei den Mitarbeiten liegt bereits bei 14 Prozent. Psychologen sagen, ein hoher Krankenstand sei Ausdruck mangelnder Identifikation mit dem Arbeitsplatz. Das alles steigert nicht gerade die Motivation.
Das Nachsehen haben die Gefangenen. „Man muss die Betreuung vehement einfordern“, erklärt Dieter Wurm. Er spricht aus eigener Erfahrung. Wurm möchte an sich arbeiten, eine Therapie machen. Das alles ist Voraussetzung dafür, dass er die Sicherungsverwahrung 2016 vielleicht nicht antreten muss. Aber die Warteliste für einen Platz in der Sozialtherapeutischen Anstalt in Tegel ist lang. „Tegel war schon immer die Haftanstalt für die schwierigen Gefangenen“, sagt Leiter Adam. „Wir haben sehr viele Insassen mit psychischen Auffälligkeiten. Das hat erheblich zugenommen.“
Die Langstrafer bleiben
Der neue Knast in Brandenburg könnte dieses Problem noch verschärfen: Bislang haben in Tegel auch sogenannte Kurzstrafer gesessen. Die kommen nun nach Heidering. Übrig bleiben die Langstrafer, die Lebenslänglichen und die Sicherungsverwahrten. Tegel wird entmischt. Es gilt, das Profil zu schärfen, Konzepte zu entwickeln, damit Tegel nicht in Hoffnungslosigkeit versinkt. Damit beschäftigt sich jetzt eine anstaltsinterne Projektgruppe. „Ich hoffe, dass es gelingt, einen Weg zu finden, der den Ansprüchen des Strafvollzugsgesetzes gerecht wird“, sagt Ralph Adam. Er bemüht sich, zuversichtlich zu klingen. Viel dazu beitragen kann er nicht mehr: Im Frühjahr geht Adam in den Ruhestand.
Die Gefangenenzeitschrift Lichtblick hat sich in ihrer Weihnachtsausgabe intensiv mit Heidering auseinandergesetzt. Bei aller Unsicherheit, was die Zukunft von Tegel betreffe – er habe noch keinen Gefangenen getroffen, der freiwillig in den „Betonknast“ wolle, sagt Dieter Wurm. „Tegel ist Tegel. Da weiß man, was man hat.“
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