Entwicklung Medizinische Drohnen, 3-D-Drucker, Wearables. Diese Erfindungen kommen jetzt auch bei den Ärmsten an. Lösen sie ein Problem? Oder schaffen sie ein Neues?: Wie Technik die Entwicklungshilfe verändert
von Holly Young und Jan-Niklas Kniewel
Stellen Sie sich ein kleines, abgelegenes Dorf vor. Etwa in der Zentralafrikanischen Republik. Die Kindersterblichkeit ist eine der höchsten weltweit. Malaria die häufigste Todesursache unter den Jüngsten. Ärzte erreichen die Siedlung nicht, weil der Bürgerkrieg noch immer wütet. Die einzige Straße wird von Kämpfern blockiert.
Trotzdem wissen Mediziner in der Hauptstadt: Zahlreiche Kinder drohen zu sterben. Das verraten ihnen Daten, die kleine, mit Sensoren ausgestattete Arm- oder Halsbänder übermitteln, die von den Kindern getragen werden. Die von der Weltgesundheitsorganisation ermöglichte Massenproduktion hat den Stückpreis auf zwei Dollar pro Stück reduziert. In Friedenszeiten hat man die Bänder verteilt. Zuvor wussten die Ärzte nicht einmal, dass viele der Kinder überhaupt existieren. Ein großer Teil der Neugeborenen in den am wenigsten entwickelten Ländern bleibt unidentifiziert. Entsprechend kompliziert ist ihre Versorgung. Die automatische Übertragung der Daten funktioniert problemlos, weil Hunderte Minisatelliten weltweit die Verbindung sicherstellen. Die Ärzte beladen eine kleine Transportdrohne mit den notwendigen Medikamenten und steuern sie über einen Laptop ins Dorf.
Was sich wie Science-Fiction anhört, ist keine. Alle genannten Techniken wurden bereits entwickelt, befinden sich teils schon in der Testphase. Ärzte ohne Grenzen nutzte für einen Praxistests Drohnen mit einem Kilogramm Nutzlast und einer maximalen Reichweite von 20 Kilometern.
Problem: Viele Orte sind nicht per Fahrzeug oder Flugzeug zugänglich.
Lösung: Drohnen. Das US-Startup Matternet beispielsweise hat einen Quadrocopter, der vorher festgelegte Routen selbstständig abfliegt, samt einem Kilo Nutzlast. Das Gerät wird noch erprobt und kann auch nur wenige Kilogramm transportieren. „Die Technik ist noch nicht ausgereift“, sagt Eric Pujo von Ärzte ohne Grenzen. Noch in diesem Jahr ist ein weiterer Test geplant.
Sensoren, 3-D-Drucker oder Wearables – tragbare Elektronik, die Apple Watch als bekanntestes Beispiel – könnten die Entwicklungsbranche verändern. Wer sie nur für Spielereien hält und glaubt, die Zielgruppe für diese Technik seien nur westliche Nerds aus Mittel- und Oberschicht, der irrt. In der Entwicklungshilfe hat sich ein wachsender Glaube an die Hochtechnologie breitgemacht. Der jüngste jährliche Rundbrief der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung prophezeit, dass die wesentlichen Durchbrüche in der Armutsbekämpfung in den nächsten 15 Jahre durch technische Innovationen erzielt würden.
Die Euphorie ist groß. Entsprechend steigt auch die Summe der in Technologie-Projekte investierten Gelder. Was erhoffen sich die Personen davon, die dahinterstecken? Die Expansion von Internet und Mobiltelefonen hat unsere Gesellschaft seit dem Jahr 2000 unwiederbringlich verändert. Auch die „Ziele nachhaltiger Entwicklung“ (Sustainable Development Goals, kurz SDG), die im September 2015 die Millenniums-Entwicklungsziele ersetzten, hat der Technikoptimismus geprägt.
Den illustrieren etwa die „Wearables for Good Challenge“, lanciert vom UN-Kinderhilfswerk Unicef, wonach tragbare Sensoren „die nächste mobile Revolution“ sein könnten. Unterstützt wird die Veranstaltung auch von ARM, einem britischen Technikanbieter, dessen Prozessoren die meisten Smartphones treiben. ARM investiert an vielen Stellen in der Entwicklungsbranche. Ian Drew ist einer der Hauptverantwortlichen des Unternehmens für Marketing und Geschäftsfeldentwicklung. Was er sich von der Technik erwartet? „Es geht um Effizienz, das steht an erster Stelle. Das macht die Datenerhebung einfacher. Mehr Daten wiederum machen die Programme effektiver. Und das ermöglicht einen weitaus größeren Wirkungsbereich“, sagt Drew. „Besitzt jemand ein Smartphone mit einigen Schlüsselapplikationen, braucht man nicht immer einen Entwicklungshelfer vor Ort samt Ausstattung.“
Doch warum sollte man große Mengen an Geldern für Highechapparate verwenden, wenn zahlreiche Menschen nicht einmal über Lebensmittel und Impfstoffe verfügen? Erica Kochi ist Mitbegründerin von „Unicef Innovation“, der Abteilung, die auch den Wearables-Wettbewerb angeschoben hat. Kochi widerspricht dieser naheliegenden Kritik: „Technik hilft dabei, etwa die mit der Lieferung von Impfstoffen verbundenen Kosten zu verringern. Auch wenn es anfängliche Investitionen braucht, so spart man doch langfristig, weil man das ganze System effizienter macht.“
Doch es gibt auch Stimmen, die dem Ganzen weitaus skeptischer gegenüberstehen. Einer von ihnen ist Kentaro Toyama vom Massachussetts Institute of Technology, dem MIT in Cambridge. Der Informatiker und Entwicklungsforscher ist kein Gegner der Technik, im Gegenteil. Aber Toyama sieht ein utopisch digitales Dogma vorherrschen, gegen das er sich wendet. Fast ein Jahrzehnt lang hat Toyama an Technologien zur Verbesserung der Verhältnisse in den Entwicklungsländern gearbeitet. Er wurde sich vor allem deren Grenzen bewusst. Seine Kritik hat er in seinem jüngst erschienenen Buch „Geek Heresy“ zusammengefasst. Im Untertitel fordert er, dass man den sozialen Wandel vor dem Kult um die Technologie schützt.
„Es gibt diese Tendenz in der internationalen Entwicklung, Fortschritt als etwas zu sehen, bei dem es um technische Entwicklung und deren Verbreitung gehe“, sagt Toyama. „Wir sehen Armut als ein Problem, dass wir lösen müssen. Die natürliche Neigung ist, irgendwo reinzugehen und eine technisierte Lösung anzubieten.“ Fragen rund um die Anwendung würden oft stark vereinfacht, so dass letztlich oft Schwarzweißbilder vorherrschten: Technologie als pauschal positive oder negative Kraft. Toyama hingegen argumentiert, dass Stärken und Schwächen vor allem vom jeweiligen Kontext abhingen. Doch der große Erfolg, der aus dem Silicon Valley herüberstrahle, würde viele in blinde Euphorie verfallen lassen.
Weiterhin müsse man sie im richtigen Kontext sehen: Technologie ist kein Allheilmittel und hat keine Eigenschaften, die ihre Effektivität garantieren. Sie verstärke nur die hinter ihr stehenden menschlichen Eigenschaften und Motivationen – ob gut oder schlecht. Die Fetischisierung von Technologie aber könne in letzter Konsequenz dazu führen, dass man sie als Symbol des Fortschritts selbst versteht, statt als Werkzeug für soziale und ökonomische Entwicklung.
„Technische Geräte stellen eine tolle Fotogelegenheit dar“, spottet Toyama. „Ein guter Anteil der Personen, die diese Techniken vorantreiben, wollen in nur einem Bild zeigen, dass sie vermeintlich einem Haufen Leute geholfen haben.“
Und: So neu ist das alles nicht. Die Geschichte derartiger Lösungsansätze ist auch eine zahlreicher Fehlschläge. „Der Reiz der glänzenden technischen Spielerei ist groß“, warnt auch Erica Kochi von Unicef. Ein berühmtes Beispiel für ein solch fehlgeschlagenes Projekt ist „One Laptop per Child“.
Problem: Rund ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren existieren laut Unicef offiziell nicht. Das erschwert ihre Gesundheitsversorgung ungemein. Dazu kommt – auch bei Erwachsenen – die Schwierigkeit, sie in den ärmsten Länder der Welt mit ihren Patientendaten zu verknüpfen.
Lösung: Studenten der britischen Universität Cambridge haben SimPrints gegründet. Ein Fingerabdruckscanner verwandelt die Fingerlinien in einen Zahlencode von nur 400 Bytes. Der Code geht via Bluetooth an das Telefon des Arztes oder eines anderen Anwenders und schaltet die Daten frei. SimPrints speichert Daten nicht selber, sondern arbeitet mit denen der NGOs. Das Ganze läuft auf Open Source, also offener Software.
Dieses Projekt sei das Paradebeispiel für Technikversagen in der Entwicklungszusammenarbeit, erörtert Wayan Vota von der Nichtregierungsorganisation FHI 360, die sich der Suche nach lokalen Lösungen für soziale Problematiken verschrieben hat. Vota war bis 2011 sechs Jahre lang in das „One Laptop per Child“-Projekt involviert. Sie wollten Millionen von Kindern in den Entwicklungsländern jeweils einen Laptop im Wert von 100 Dollar zu Verfügung stellen. Doch das Konzept erwies sich als völlig ungeeignet. Nach der Produktion und Verteilung von 2,5 Millionen Laptops führte die Interamerikanischen Entwicklungsbank 2012 eine Studie an 319 peruanischen Schulen durch: Es waren keine positive Wirkung auf Rechen- oder Leseleistungen erzielt worden. Ebenso in Uganda.
„Die Lektion ist“, sagt Vota, „wenn du dich auf deine eigenen Annahmen stützt und den Kontext nicht verstehst, dann erhalten deine vorrangigen Nutzer vielleicht gar keinen Zugang zu der Technik oder benutzen sie kaum.“
Wayan Vota erklärt, dass das gute alte Radio, wenngleich nicht so sexy für die Medien, doch noch immer eine der wirkungsvollsten Techniken im Entwicklungssektor sei. In Regionen mit hohen Analphabetenzahlen ist es etwa eines der besten Instrumente, um Bildung, Informationen und Aufklärung zu verbreiten.
Problem: Das Gesundheitssystem in Indien basiert auf Papier und ist ineffizient sowie fehleranfällig. Noch immer ist die Impflücke nicht geschlossen, viele Kinder werden nicht richtig immunisiert.
Lösung: Einer der Gewinner der „Wearables for Good Challenge“ von UNICEF ist eine Art digitaler Impfpass in Form eines Kettenanhängers. Mit einem Mobiltelefon werden die Infos gescannt, ohne dass der Zugriff auf eine Datenbank nötig wäre.
Besonders beunruhigend sei die zunehmende Geschwindigkeit, mit der neue Entwicklungen in den reichen Ländern des globalen Nordens als potenzielle Retter der Entwicklungsländer betrachtet würden, sagt der Computerwissenschaftler Toyama. Wearables etwa seien noch nicht einmal in den Industrieländern verbreitet und in der breiten Masse akzeptiert. „Wir sind also an einem Punkt, an dem wir die Entwicklungsländer nahezu als Experimentierfeld benutzen.“
Dennoch scheint sich ein Erfolgsrezept herauszuschälen, um die Spitzentechnik in Entwicklungsprogrammen zu nutzen, ohne die alten Fehler zu wiederholen. Die Wichtigkeit, die Bedürfnisse und den kulturellen Kontext des Endnutzers ins Zentrum der Konzeption zu stellen, ist nun weitgehend anerkannt. Eine App in einem Büro in London oder San Francisco zu designen und einfach in den Entwicklungsländern zur Anwendung bringen zu wollen, führt unausweichlich zu Massen ungenutzter, verstaubender Technik.
Näher am Geschehen ist da zum Beispiel WeFarm, ein Start-up-Unternehmen, das es Farmern in Entwicklungsländern ermöglicht, Zugang zu elementaren Informationen über Düngemittel, Saatgut, Tier- oder Pflanzenkrankheiten zu erhalten. Das Konzept ist einfach: WeFarm ermöglicht es den Farmern, einander gegenseitig zu helfen. Dazu muss man nur seine Frage per kostenfreier SMS an die lokale Nummer des Unternehmens senden, dieses leitet die Frage an ausgewählte andere Bauern weiter, und binnen kurzer Zeit erhält der Fragesteller Antworten. Über 43.000 Nutzer hat WeFarm nach Eigenangaben bisher in Kenia, Tansania und Peru.
Das Start-up will auch Geld verdienen: WeFarm bietet Unternehmen neben den Daten auch gesponserte Tipps und Werbung an, die via SMS verschickt werden.
Das Hilfswerk Unicef selbst hat ein Regelwerk etabliert, das beispielsweise Nachhaltigkeit und das Verständnis lokaler Zusammenhänge zum Kern der Konstruktionen machen soll. Diese Regeln braucht es auch, um mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden, die mit neuen Wegen entstehen. Das Problem des Datenschutzes und -eigentums etwa.
Ein anderes Problem ist die Expansion des privaten Sektors in Bereichen wie der Lieferung von Hilfsgütern und Produkten in sich entwickelnde Märkten. „Eines der Ziele der ‚Wearables Challenge‘ ist es, dass sie darüber nachdenken, welchen Effekt Wearables und Sensortechnik außerhalb ihres unmittelbaren Marktes erzielen könnten“, erklärt Kochi.
Diesbezüglich ist Kentaro Toyama besonders kritisch: „Unter meinen Kollegen reden wir von diesen Programmen oft als neokolonialistisch. Sie sind nur eine weitere Möglichkeit für den Westen, arme Länder auszubeuten. Im Namen des Guten.“
Dennoch stehen für Kochi die Fortschritte im Vordergrund, die dank der Technologie unbestreitbar auf dem Feld der Entwicklung gemacht wurden: „Die Technologie hat unsere Möglichkeiten stark erweitert, etwa was die Umsetzung der SDGs betrifft. Wir können viel gezielter und mehr aufs Individuum gerichtet arbeiten, anstatt nur mit Durchschnittswerten. Und jetzt wirklich die Unterversorgtesten und Marginalisiertesten anvisieren.“
Jene in unserem kleinen fiktiven Dorf zum Beispiel. Diese werden jedoch dem Kindesalter längst entwachsen sein, bis entsprechende Lösungen wirklich ausgereift sind und ineinandergreifen.
Holly Young ist Redakteurin des Londoner Guardian. Sie schreibt über Entwicklungspolitik und war Hospitantin bei der taz.am wochenende
Jan-Niklas Kniewel ist derzeit bei der taz.am wochenende und berichtet sonst als freier Journalist aus dem Nahen Osten
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