: Frankfurt schafft die Platte für alle
FLUCHT Die Oderstadt begreift Geflüchtete nicht als Problem, sondern als Teil der Lösung gegen die schrumpfenden Bevölkerungs-zahlen. Konsequent werden Menschen im Asylverfahren in Wohnungen untergebracht. Betreuung soll Integration beschleunigen
von Nina Apin
Christa Moritz steht auf einem Hügel und lächelt. Vor ihr ragen drei Sechzehngeschosser empor, zu ihren Füßen wachsen Lavendel und Rosen. „Das Beet pflegen die Mieter gemeinsam“, erzählt die Ko-Geschäftsführerin der städtischen Wohnungsbaugesellschaft „Wohnungswirtschaft“, kurz Wowi, stolz. Die Anlage „Halbe Stadt“ im Zentrum von Frankfurt an der Oder zählt pro Turm 90 Wohneinheiten. Die Fassaden sind etwas in die Jahre gekommen, drinnen riecht es nach Essen und alterndem Linoleum. Gegenüber vom Aufzug hängt eine Tafel: Wer Einkäufe für betagte Nachbarn übernehmen will, kann sich dort eintragen. „Die Wowi kümmert sich um ihre Mieter“, sagt Moritz. „Und zwar um alle.“
Besonders kümmern sich Moritz und ihr Unternehmen seit einiger Zeit um Flüchtlinge. 103 Asylsuchende wurden bislang auf 50 städtische Wohnungen vermittelt. Und es sollen noch mehr werden: Für 50 Wohnungen hat die Stadt einen Generalmietvertrag mit der Wowi unterschrieben. Durch den können Geflüchtete ohne bürokratische Hindernisse zügig die Gemeinschaftsunterkünfte verlassen. Und sich bereits, während sie auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten, auf den Alltag in Deutschland vorbereiten. Die Wowi und die Stadt helfen ihnen dabei: Mit der Vermittlung deutscher Mieter als Paten und personeller Unterstützung durch Sozialarbeiter. Auch die eigenen Mitarbeiter und die Hauswarte werden interkulturell geschult, damit sich das gegenseitige Fremdeln in Grenzen hält.
In Frankfurt an der Oder gelingt offenbar in aller Stille, was in vielen deutschen Städten gründlich gescheitert ist: die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten und ihre Integration ins Stadtleben.
Im 14. Stock der „Halben Stadt“ wartet eine leere Wohnung auf Flüchtlinge, geeignet für eine Familie mit Kindern oder eine Männer-WG: drei Zimmer, Küche, Bad, spektakulärer Blick auf den Fluss. Die Wohnungen seien in gutem Zustand, nur einen Balkon gibt es oftmals nicht – für viele deutsche Mieter sei das ein Manko, erzählt Moritz, die auch oberste Kundenbetreuerin des Unternehmens ist. Wenn nur die Möbel endlich kämen.
Das Problem: Frankfurt schrumpft. Die ostbrandenburgische Stadt am Westufer der Oder hat seit der Wende fast seine gesamte Industrie verloren. Auch die Einwohnerzahl sinkt stetig. Vor allem junge Menschen im erwerbsfähigen Alter verlassen die Stadt. Knapp 10 Prozent der Wohnungen stehen leer.
Die Lösung: Frankfurt will die Geflüchteten, die kommen, in der Stadt halten. Als neue EinwohnerInnen sollen sie den Bevölkerungsschwund stoppen. Dazu hat die Stadt mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft eine Kooperationsvereinbarung geschlossen: Geflüchtete sollen dezentral untergebracht werden.
103 Menschen wurden bereits in 50 Wohnungen vermittelt, weitere 50 Wohnungen sollen folgen. Um Integrationsproblemen vorzubeugen, vermittelt die Stadt Sprachpaten und SozialarbeiterInnen und klärt die Wohnbevölkerung über die „Nachbarn aus der Ferne“ auf. (api)
„Die Möblierung ist derzeit unser größtes Problem, alles hat ewige Lieferzeiten“, sagt Jens-Marcel Ullrich, Sozialdezernent der Stadt. Ansonsten fühlt man sich in Frankfurt aber gut gewappnet für die Flüchtlingskrise. 543 Geflüchtete befinden sich derzeit in der Stadt, die meisten aus Somalia, Syrien und Ländern der russischen Föderation. 349 Menschen leben in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Seefichten und am Südring.
Die Kapazität der Notunterkünfte ist noch nicht ausgeschöpft. „In der Flüchtlingskrise haben wir ausnahmsweise mal einen Standortvorteil“, sagt der schlanke SPDler mit dem Oberlippenbärtchen und lacht. Christa Moritz und ihre Kollegin Milena Manns, die sich um einen Besprechungstisch in der Zentrale der Wohnungswirtschaft versammelt haben, lachen mit. „Genau: in der Krise sind die Letzten plötzlich ganz vorn“, sagt Manns, die sich im Unternehmen um Sozialmanagement kümmert.
Die Letzten: Das waren sie in Frankfurt (Oder) ziemlich lange. Die ostbrandenburgische Grenzstadt hat nach der Wende fast ihre gesamte Industrie und 28 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Nur noch knapp 58.000 Einwohner zählt Frankfurt gegenwärtig. Es ist vor allem die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen, die abgewandert ist. Von den 8.000 Wohnungen der Wohnungswirtschaft stehen 800 leer, seit Jahren dezimiert man mit einem Rückbauprogramm den Bestand. Wird der Abriss jetzt gestoppt, weil der Wohnraum für Geflüchtete gebraucht wird?
„Wir reißen weiter ab, denn unser Blick ist nachhaltig, was die Stadtentwicklung betrifft“, widerspricht Moritz. „Wir versorgen Asylbewerber auch nicht in Abrissgegenden. Sondern integrieren sie ganz behutsam über alle Quartiere. Wir behandeln diese Menschen wie alle anderen Mieter auch.“
Nicht mehr als zwei Flüchtlingsparteien pro Hausaufgang, diese Regel haben sie bei der Wohnungswirtschaft aufgestellt. Jetzt, wo die Flüchtlingszahlen größer werden, sind es doch etwas mehr. Aber Quartiersbetreuerin Milena Manns sorgt mit Kolleginnen dafür, dass die soziale Mischung in den Häusern stimmt und Ressentiments gegen die Neuen nicht die Oberhand gewinnen.
Milena Manns, Quartiersbetreuerin
Nichts wird hier dem Zufall überlassen: Bevor Flüchtlinge nach mindestens drei Monaten in einer Gemeinschaftsunterkunft eine Wohnung beziehen dürfen, müssen sie eine Schulung durchlaufen, sie werden über Politik, Gesellschaft und Grundregeln des alltäglichen Zusammenlebens in Deutschland informiert. Dann bekommen sie eine Wohnung zugeteilt: Familien mit Kindern haben Vorrang, Männer können auch Wohngemeinschaften bilden.
Und die Nachbarn bekommen eine Aufklärungsbroschüre in den Briefkasten. „Mein Nachbar aus der Ferne“ heißt das Faltblatt, das 16 Fragen beantwortet. „Müssen diese Leute in Wohngebieten leben? Steigt die Kriminalität? Kriegen die mehr Geld als Hartz-IV-Empfänger?“ Die Antworten fallen sachlich aus. Und sehr entschieden. „Asyl ist ein Menschenrecht und nicht verhandelbar – daran lassen wir keinen Zweifel“, sagt Milena Manns und schiebt das Kinn vor. Und Christa Moritz ergänzt: „Integration ist etwas, das noch nicht von alleine passiert. Wir begleiten das intensiv und stecken einiges an Aufwand hinein. Aber wir können und wollen es uns nicht leisten, dass Nachbarschaften auseinanderfallen.“
„Gelebte soziale Verantwortung“ nennt der Sozialdemokrat Ullrich diese Praxis und schwärmt von der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen dem Wohnungsbauunternehmen, Politik und Verwaltung. Für ihn sind die Geflüchteten eine Chance, aus der Abwärtsspirale von Einwohnerschwund, Überalterung und Arbeitsmarktdezimierung herauszukommen. Nur leider wollten viele von denen, die Frankfurt so begeistert aufnimmt, gar nicht bleiben.
„Die meisten ziehen weiter, das müssen wir ändern“, sagt Ullrich und spricht von den Arbeitsplätzen, die durch die neuen Bewohner geschaffen werden. Später dann, so Ullrichs Hoffnung, werden die Neu-FrankfurterInnen selbst eine Bereicherung für den Arbeitsmarkt: Pflege, Gesundheitswirtschaft, Sozialbereich ...
Bei Josephine King* hat Sozialdezernent Ullrich sein Ziel fast erreicht. Nach etwas mehr als einem Jahr in der Großunterkunft Seefichten hat die Kenianerin nun eine der Wowi-Wohnungen im Stadtzentrum bekommen. Zwei Zimmer mit Bad, Küche und Balkon, unbefristeter Mietvertrag. Nur ihr Asylantrag ist noch nicht entschieden.
Die 40-Jährige, die erst kürzlich Mutter geworden ist, nutzt das Warten auf den Asylbescheid, um Deutsch zu lernen und sich mit den Nachbarnanzufreunden. Bisher liefe es ziemlich gut, sagt sie. Auch die Stadt gefällt ihr, wenn sie kann, will sie bleiben. „Ich habe viele nette und hilfsbereite Menschen hier kennengelernt“, sagt King. „Es wäre schön, ihnen eines Tages etwas zurückgeben zu können.“* Name geändert
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