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Fast ideale Bedingungen

EinkommenSeit einem Jahr gilt die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Berliner UnternehmerInnen sehen kaum Probleme mit dem Mindestlohn. Auch der von Kritikern erwartete massive Stellenabbau blieb bislang aus

In Berlin hat die Einführung des Mindestlohns nicht zu einem Abbau von Arbeitsplätzen geführt Foto: imago

von Hannes Koch

Von elf Fahrern hat Taxi-Unternehmer Boto Töpfer drei entlassen. Wegen des Mindestlohns, sagt er. Seit einem Jahr nun muss er seinen Leuten mindestens 8,50 Euro pro Stunde zahlen. „Die dafür nötigen Umsätze konnten die drei nicht erbringen“, erklärt Töpfer, der auch als Vizechef beim Taxiverband Berlin Brandenburg amtiert.

Immerhin: Um den gestiegenen Lohn auszugleichen, hat der Senat höhere Taxi-Tarife genehmigt. Um 16 Prozent sind die Fahrten teurer geworden. „Glücklicherweise haben die Kunden das geschluckt“, sagt Töpfer, die Nachfrage sei nicht zurückgegangen. Trotzdem hätten Unternehmer wie er zu kämpfen, um die gestiegenen Löhne und Lohnnebenkosten über höhere Einnahmen zu erwirtschaften.

Ähnliche Berichte und Klagen über den Mindestlohn sind immer wieder mal zu hören. Insgesamt jedoch fällt die Bewertung bislang erstaunlich positiv aus – von Gewerkschaften,wie von Unternehmerverbänden und Firmen. Danach sah es vor einem Jahr überhaupt nicht aus. Ökonom Hans-Werner Sinn vom Münchner ifo-Institut befürchtete beispielsweise, dass bis zu 900.000 Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen könnten. Und Firmenverbände malten den Bankrott vieler Betriebe an die Wand.

Davon ließ sich die schwarz-rote Bundesregierung nicht beirren. Schließlich war der Mindestlohn eines der wichtigsten Vorhaben, das die SPD nach der Bundestagswahl 2013 mit der CDU ausgehandelt hatte. Zum 1. Januar 2015 trat die Lohnuntergrenze in Kraft. Seitdem darf kein Arbeitnehmer in Deutschland mehr weniger als 8,50 brutto pro Stunde erhalten, von Ausnahmen abgesehen.

Serie: Arbeit, Arbeit, Arbeit

Dass wir in einer „Arbeitsgesellschaft“ leben, in der viele maßgeblich in der Erwerbsarbeit Lebenssinn finden, ist ein alter Hut. Aber stimmt das noch? Was bedeutet Arbeit, wenn immer weniger Menschen gebraucht werden, um immer mehr Waren zu produzieren und neue Dienstleistungen zu erfinden? Was heißt Arbeit, wenn Familienarbeit immer wichtiger wird?Wird Arbeit mehr geschätzt, wenn sie dank Mindestlohn besser bezahlt wird – oder weniger, weil Ehrenamt und Freiwilligenarbeit die neuen Sinnstifter sind? Und wenn die Arbeitslosenquote in Berlin mit rund 10 Prozent so niedrig ist wie selten: Was für Jobs sind es, die der „Jobmotor Berlin“ anzieht? Und ist es wahr, dass wenigstens Handel und Handwerk über die vielen Flüchtlinge froh sind – weil sie dringend Arbeitskräfte suchen? Im zweiten Teil der Serie zu diesen Fragen geht es um Erfolge und Misserfolge des Mindestlohns, der seit einem Jahr gilt.

Heute sagt Carsten Brönstrup, der Sprecher der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg: „Momentan gibt es in Berlin kaum Probleme wegen des Mindestlohns. Nur in Einzelfällen erhalten wir Nachrichten über Schwierigkeiten in den Unternehmen. Eine starke Tendenz zum Abbau von Arbeitsplätzen sehen wir nicht.“ Den Hintergrund bildet die überwiegend positive Wirtschaftsentwicklung. Die Zahl der Erwerbstätigen in Berlin steigt seit zwei Jahren um mehr als 1,5 Prozent pro Quartal. Zwar verzeichnete Brandenburg weniger Stellen, aber auch dort ging die Arbeitslosigkeit zurück: 2015 im Vergleich zu 2014 um 0,5 Prozent. Berlin verbuchte minus 0,4 Prozent.

Dabei ist freilich auch ein gegenläufiger Prozess zu beobachten: Die Zahl der geringfügigen Jobs, der Minijobs bis 450 Euro brutto pro Monat, nahm 2015 ab. Dass weniger Personen die Möglichkeit haben, die pauschal versteuerten und versicherten Zusatzjobs auszuüben, ist auf die Einführung des Mindestlohns zurückzuführen. Weil die Minijobber einen höheren Lohn erhalten müssen, sind die Arbeitgeber entweder gezwungen, die Minijobs in reguläre Stellen umzuwandeln. Oder sie schaffen die geringfügigen Stellen ab und verteilen die Arbeit auf ihr übriges Personal.

Was wirklich passierte, ist wegen der kurzen Zeit seit Einführung des Gesetzes bislang unklar. Man ist auf Vermutungen angewiesen. Ökonom Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sagt: „Maximal 100.000 Minijobs sind bundesweit verloren gegangen. Sie wurden schätzungsweise nicht in voll sozialversicherte Stellen umgewandelt, weil sie für die Arbeitgeber zu teuer wurden. Ohne diesen Negativeffekt wäre der ohnehin zu verzeichnende Zuwachs der Beschäftigung noch größer ausgefallen.“ Das gilt auch für die Hauptstadt: Höchstens 4.000 Minijobs sind hier weggefallen. Diese Verluste machen sich kaum bemerkbar angesichts der insgesamt wachsenden Arbeitsplatzzahl.

1,5 Prozent mehr Erwerbstätigepro Quartal

Geringfügige Beschäftigung spielt eine große Rolle unter anderem im Taxigewerbe und Einzelhandel, bei Friseuren, in der Gastronomie und Gebäudereinigung. Gerade in diesen Branchen sei es 2015 zu einem überdurchschnittlichen Zuwachs an regulären Stellen gekommen, hat das Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ermittelt. Dieser statistische Befund deckt sich mit Berichten aus dem Alltag der Berliner Wirtschaft. Bedienungen in Restaurants und Kneipen seien nicht in großer Zahl gekündigt worden, heißt es beim Hotel- und Gaststättenverband Berlin (Dehoga). Wobei allerdings immer wieder von trickreicher Umgehung des Mindestlohns berichtet wird: Manche Barbesitzer würden das Mindestlohngesetz nur auf dem Papier einhalten, indem sie beispielsweise das Trinkgeld ihrer Mitarbeiter in den Lohn einberechneten, erklärt ein Berliner Clubbetreiber, der nicht genannt werden will.

Unter dem Strich fällt das Fazit positiv aus, weil die Bedingungen für die Einführung einer Lohnuntergrenze nahezu ideal waren. Wegen der gut laufenden Konjunktur können die Unternehmen auch teurere Arbeitnehmer finanzieren. Wenn sie zu diesem Zweck die Preise erhöhten, wie beispielsweise im Taxigewerbe und in vielen Friseursalons geschehen, dann akzeptierten die Kunden die steigenden Kosten. Denn überwiegend geht es ihnen materiell gut, und sie machen sich keine Sorgen über ihre Arbeitsplätze.

Bleibt die Frage: Kann das dicke Ende noch kommen? Grundsätzlich ja: Wenn die Wirtschaft zu stottern beginnt, werden teure Beschäftigte, die einfache Tätigkeiten verrichten, wegen des Mindestlohns möglicherweise schneller entlassen. Carsten Brönstrup von den Unternehmensverbänden Berlin-Brandenburg sagt: „Für eine abschließende Bewertung des Mindestlohns ist es deshalb zu früh. Vielleicht fallen uns die Probleme in der nächsten Krise auf die Füße.“

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