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Aus der Sonderausgabe „Charlie Hebdo“Die Figur tut und lässt, was sie will

Nadia Khiari hat in der Arabellion ihre Figur „Willis from Tunis“ gefunden. Beim Anschlag auf „Charlie Hebdo“ hat sie einen Freund verloren.

Illustration: Nadia Khiari

TUNIS taz | Es ist das Jahr 1973. Tahar Khiari hat etwas Wertvolles verloren, und weil er abergläubisch ist, sucht er eine Hellseherin auf. Auf seine einfache Frage gibt sie ihm die Antwort, die er sich erhoffte. Doch als er gerade zufrieden gehen will, ruft sie ihm nach: „Sie werden bald Großvater. Ihre Enkelin wird Künstlerin werden. Lassen Sie sie machen.“

Acht Monate später wird Nadia Khiari in La Marsa, einem Vorort von Tunis, geboren. Der „aufgeklärte Diktator“ Habib Bourguiba ist seit 18 Jahren an der Macht. Künstler dürfen Kunst schaffen, solange sie der politischen Sache fernbleiben.

Als Kind flüchtet Nadia regelmäßig zu ihrem Großvater. Er ist Polizist und ein strenger Mann, aber er befolgt den Rat der Hellseherin. Nadia zeichnet auf den Boden, auf die Wände, in seine Märchenbücher. Wenn ihre Eltern sie tadeln, sagt er einfach: „Lasst sie machen.“

Nadia ist 14 Jahre alt, als der Premierminister Zine El Abidine Ben Ali am 7. November 1987 den Präsidenten Bourguiba stürzt. Die Jugendliche Nadia betrifft das wenig. Sie zeichnet weiter. Sie liest „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre und fühlt sich drei Tage lang übel. Sie entdeckt die Punkbewegung. Sie fühlt sich anders, wie „eine Mutantin“. In der Schule wird sie bestraft. Sie lebt das Leben durch und durch. Im Fernsehen verspricht Ben Ali mehr Demokratie. Das Versprechen hält nur ein paar Jahre.

Unter seinem autoritären Regime macht Nadia die Schule fertig, lernt Kunst, lehrt Kunst. Und hält es nicht mehr aus, als sie 30 wird. Sie hat das Gefühl, ihr Leben zu verpassen. In Tunesien ist Pressefreiheit undenkbar. Um es endlich als Comiczeichnerin zu probieren, zieht sie nach Frankreich. Ein totaler Fehlschlag.

Fehlschlag in Frankreich

Jahrelang stellt sie dort überall ihre Arbeit vor, doch sie bekommt keine einzige Antwort. Stattdessen lehrt sie Technisches Zeichnen in einem Bildungszentrum für gescheiterte Schüler, „große Kinder, die einfach Liebe brauchten“. Dort hat sie mehr Probleme mit der Schulleitung und den anderen Lehrkräften als mit dem Haufen 16-jähriger Jungs. Auch als Erwachsene empfindet Nadia weiterhin denselben Hass gegenüber Autorität.

Am 17 Dezember 2010 sitzt Nadia Khiari zu Hause in La Marsa. Sie ist seit ein paar Jahren wieder in Tunesien. Sie lehrt wieder Kunst und ist meilenweit vom Erfolg entfernt. Als sie einem Verlag ihre Zeichnungen vorgeschlagen hat, meinte der Verantwortliche, „das interessiert niemanden in Tunesien“. Sie könnte aber „etwas mit Fußball zeichnen, das würde gehen“. Gegen Mittag in Sidi Bouzid, 200 Kilometer südlich, setzt sich Mohamed Bouazizi selbst in Brand. Die Revolution beginnt.

Fast einen Monat später, am 13. Januar 2011, spielt Ben Ali seinen letzten Trumpf aus. Er hält eine Rede im Fernsehen. Zum ersten Mal seit 23 Jahren spricht er tunesischen Dialekt anstatt Hocharabisch. Er verspricht Reformen, er verspricht Wahlen. Er sagt: „Ich habe euch verstanden.“ Es glaubt ihm keiner. Am nächsten Tag wird er nach Saudi-Arabien flüchten.

Tiefe Abscheu für Autorität

Nadia Khiari schaut sich die Rede im Fernsehen an. Es ist beides: beängstigend und zum Totlachen. Diese Situation inspiriert sie. Ihre Katze Willis macht es sich in ihrem Atelier gemütlich. Sie zeichnet Ben Ali als Katze, die einer Menge Mäuse sagt: „Ich habe euch verstanden.“ Nadia signiert „Willis from Tunis“, weil es sich reimt und veröffentlicht ihre Zeichnung im Netz. Für Ben Ali ist es das Ende. Für Willis from Tunis ist es erst der Anfang.

Plötzlich ist für Willis, aka Nadia Khiari, die Hölle los. Fast jeden Tag veröffentlicht sie neue Zeichnungen. Ausländische Zeitungen bitten sie um Karikaturen. Die Katze Willis from Tunis taucht in Frankreich, Italien, Mexiko und Brasilien auf. 2011 ist das beste Jahr in Nadias Leben: Es herrscht Chaos, jeder kann tun und lassen, was er will. Ein Traum für Nadia, die Autorität so tief verabscheut. Sie findet heute noch, die Wahlen seien Ende 2011 zu früh gekommen.

Willis from Tunis ist aus der tunesischen Revolution geboren. Im Internet und in Magazinen kommentiert die Katze seit fünf Jahren den sozialen und politischen Alltag der jungen Demokratie. Nadia kritisiert die Islamisten und die neue Regierung gleichermaßen und hält sich von Politikern und Parteien fern. Als die Weltbank sie für ein Marketingprojekt unter Vertrag nehmen möchte, sagt sie ab. Sie arbeitet weiter als Lehrerin, um als Karikaturistin finanziell unabhängig zu bleiben.

Fatalistischer Humor

Von Fatalismus geprägt ist ihr Humor – typisch tunesisch. Nadia gibt nichts auf gute Manieren. Wenn jemand hinfällt, lacht sie sich schlapp. Und wenn etwas Schreckliches passiert, zeichnet sie, um die Angst zu bewältigen. Sie will Menschen zum Lachen bringen, und noch besser ist es, wenn sie dabei auch nachdenken. Beides zusammen zu erreichen, ist aber „sauschwierig“.

2012 stellt Nadia auf ihrem ersten großen Festival aus, in der französischen Stadt Dax. Sie ist „die Neue“, fühlt sich klein neben diesen großen Karikaturisten, die sie vergöttert. Sie versteckt sogar ihre Zeichnungen vor ihren Blicken. Dort trifft sie zum ersten Mal Tignous. Sein echter Name ist Bernard Verlhac, er ist 55 Jahre alt, und er zeichnet für Charlie Hebdo. Tignous ist „ein toller Typ“, sie freunden sich schnell an, trinken viel Wein und reden endlos miteinander. Er macht sich Sorgen, weil sie in Tunis von Salafisten bedroht wird. Die beiden werden sich oft wiedersehen.

Der Anschlag auf Charlie Hebdo bedeutet für Nadia „ein Freund, der mit einer Kalaschnikow umgebracht wurde. Punkt“. Sie ist erschüttert und will nichts von der Debatte um die Mohammed-Karikaturen hören. Sie glaubt zwar, dass man als Zeichner eine Verantwortung hat. Aber auch, dass man nicht dafür verantwortlich ist, wenn Menschen Zeichnungen benutzen, um Hass zu schüren.

Ihre größte Freude ist es, ihren Karikaturen auf der Straße zu begegnen. Wenn ihre Zeichnungen nicht mehr ihre Zeichnungen sind, sondern andere sie sich aneignen. Vor zwei Monaten ist sie zu einer Demo gegangen. In der Menge sah sie einen jungen Mann, der ein T-Shirt mit einer ihrer Karikaturen trug. Sie hat ihm nicht verraten, wer sie ist. Aber ein Foto mit ihm gemacht. Weil das einzig Wichtige für sie ist, Autorität immer in Frage zu stellen.

Als Nadia vier Jahre alt war, versohlte ihre Mutter ihr den Hintern. Sie schlug zurück. „Du schlägst deine Mama?“, wütete die Mutter. „Du schlägst deine Tochter?“, antwortete Nadia.

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1 Kommentar

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  • Schön. Beinah sympathisch, diese Frau. Nun muss mir Sandro Lutjens eigentlich bloß noch erklären, wieso sich diese Nadia, die sich angeblich "wie ‚eine Mutantin‘" gefühlt hat, "Hass gegenüber Autorität" empfindet, "Autorität […] tief verabscheut" und "nichts auf gute Manieren [gibt]“, die es für "das einzig Wichtige“ hält, "Autorität immer in Frage zu stellen" und deren Humor "von Fatalismus geprägt ist", ganz plötzlich "klein [fühlt]" neben ein paar "großen Karikaturisten", die sie "vergöttert". Dass sie nicht verprügelt wurde von ihnen, kann ja wohl nicht der Grund sein.