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Stadt ohne Eigenschaften

Regionalgeschichte Osnabrück war auch in der NS-Zeit ein Inbegriff des Mittelmaßes. Das macht es als Forschungsgegenstand gerade interessant

Skandalös unerforscht ist die NS-Geschichte von Theater und Gerichten

Osnabrück ist ein interessanter Forschungsgegenstand, weil es so mittelmäßig ist. Zwar ist die offizielle Lesart eine andere: Oberbürgermeister Wolfgang Griesert hebt in seinem Geleitwort zum Band „Topografien des Terrors – Nationalsozialismus in Osnabrück“ hervor, dass man sich durch den selbstgewählten Titel der „Friedensstadt“ verpflichtet fühle zur „kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt“.

Aber Stadtmarketinggründe können nicht erklären, warum der 440-Seiten-Band ein halbes Jahr nach der Erstveröffentlichung bereits vergriffen ist und eine Zweitauflage her musste. Fraglich auch, warum der britische Sozialhistoriker Panikos Panayi die Stadt für eine Monografie „Osnabruck from the Weimar Republic to World War II and Beyond“ zum Forschungsgegenstand gemacht hat: Anders als Braunschweig war Osnabrück kein Spielort des nationalsozialistischen Aufstiegs-Epos und hatte auch keine Funktion, wie die „Führerstadt“ oder die „Hauptstadt der deutschen Schiffahrt“ Hamburg.

Panayi geht es allerdings um eine Beschreibung der „continuities and discontinuities in the everyday-life“: Er habe sich vorgenommen, zu schildern, wie der Alltag in diesen zwei Dekaden umgeprägt wird, und wie sich dabei das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu ihren Minderheiten verändert. Zumal den wachsenden und nach dem Krieg nicht abflauenden Hass gegen Roma bekommt er gut in den Blick vor dem Hintergrund dieser Stadtgesellschaft ohne Eigenschaften, gemischt-konfessionell, mit wechselnden politischen Mehrheiten und einem an Reizen armen Kulturleben.

Totalitär ist eine Herrschaft, die alle Bereiche des Lebens infiltriert, die das Private auslöscht: Um ihn zu begreifen, ist es wichtig, im Alltag das Wirken des Staatsapparats und seiner Medien zu beobachten: Partei, aber auch Kirchen, die Schulen und Kultureinrichtungen.

Das gelingt dem Topografien-Banwd trotz eines ärgerlich verklärenden Kapitels über den Judenretter Hans Calmeyer (siehe Text oben) besser als Panayi. Der übersieht gelegentlich die Probleme seiner Fragestellung: Dem „every day life“ fehlt die Struktur einer Tat, in der gemeinhin erst Schuld erkannt wird. Der Historiker, britischen Nationalisten verhasst, seit er nachwies, dass Fish and Chips ein multikulturelles Gericht ist, verfällt in seiner Monografie mitunter in erzählerisch eingängige, aber reaktionäre Muster – bis hin zu einer unangemessenen Viktimisierung: Seine Osnabrücker leiden unter denen da oben, sei es die Berliner Führungsriege, seien es die alliierten Kampfflieger. Ihre Spitzeltätigkeit wird kaum erwähnt. Und die Lager-Toten sieht man nicht.

Dem Topografien-Band passiert so etwas nicht. Das liegt auch am nicht-erzählenden Ansatz: Einige Kapitel beschränken sich auf eine kompakte Zusammenschau des Kenntnisstandes, andere geben einen Überblick über neu Akquiriertes wie parteiinterne Schriftwechsel. Verdienstvoll werden beschämende Geschichten der Enteignung und scheiternder bundesrepublikanischer Restitutionsverfahren rekonstruiert. Sichtbar gemacht werden Kontinuitäten der rassistischen Sinti-Verfolgung. Erhellend sind gerade auch die Einblicke in die Durchideologisierung des Ausstellungs- und Museumsbetriebs.

Deutlicher und nachdrücklicher hätte man indes das selbst erkannte Manko thematisieren müssen: Dass es noch immer keine präsentable Forschungslage zu den Justizbehörden der Gerichtsstadt Osnabrück gibt, ist skandalös. Und wenn ein solcher Band da keine Abhilfe schaffen kann, hätte er diese Peinlichkeit doch energischer thematisieren müssen. Ganz unverständlich wirkt jedoch eine andere Auslassung, die zudem die Maßstäbe verzerrt: Während eine obskure Kulturveranstaltung wie die „Julius Möser-Woche 1936“ in einem wirren Beitrag extensiv aufgeblättert wird, taucht die vermutlich wirkmächtigste kulturelle Institution im Buch gar nicht auf: das Theater, in der Weimarer Republik ein stark politisiertes Massenmedium.

Die Kulturpolitik der Nazis setzte zuallererst hier an – im Allgemeinen, reichsweit – aber eben auch in Osnabrück: Schon am 4. April 1933 wurde Intendant Fritz Behrend entfernt und durch einen Parteisoldaten ersetzt – Monate bevor Joseph Goebbels das Amt des Reichsdramaturgen schuf, dem alle Spielpläne vorzulegen waren.

Ein gewisser Rainer Schlösser hatte das inne. Dessen Biograf, Stefan Hüpping, hat in Osnabrück promoviert und 2006 eine gut lesbare Untersuchung über die städtischen Bühnen veröffentlicht, die ab 1933 plötzlich Nationaltheater hießen. Ein Rückgriff auf den Foschungsstand wäre also leicht möglich gewesen. bes

Thorsten Heese (Hg.): Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015463 S., 25 Euro

Stefan Hüpping: Von den Städtischen Bühnen zum Deutschen Nationaltheater Osnabrück, Wiku 2006, 148 S., 29,95 Euro

Panikos Panayi, Life and Death in a German Town: Osnabruck from the Weimar Republic to World War II and Beyond, Tauris I B 2007, 360 S., ab 69,75 Euro (engl. Verlag, daher keine Preisbindung)

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