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Unterwegs mit dem Narrenschiff

Für „Noerdliche Breite – Oestliche Laenge“ hat Ben Pohl drei Jahre lang Interviews und Dokumentarmaterial zum Aufstieg und Fall der Subkultur in Mitte zusammengetragen. Sein nächster Film soll zeigen, was aus den früheren Aktivisten geworden ist

von TIMO H. GRAU

Ein Wolkenmeer spiegelt sich in blank polierten Hochhausfenstern, davor gleitet anmutig ein tiefschwarzer Vogel durch die Luft. In der Folgesequenz deuten graue Silhouetten Plattenbauten an. Begleitet von Pianoklängen stellt die Erzählerstimme des Dokumentarfilms „Noerdliche Breite – Oestliche Laenge“ eine erste Frage: „Was hältst du für dauerhaft?“ Eine „große Stadt“, den „Industriestaat“ oder die „wohl gegründete Verfassung“, lässt Regisseur und Autor Ben Pohl die einleitende Männerstimme fortfahren. Definitive Antworten wird es keine geben, lediglich fragmentarische Verknüpfungen von Impressionen.

Kurz vor Toresschluss der Neunzigerjahre hat der Absolvent der Berliner Fachhochschule für Kommunikationsdesign mit seinem Film begonnen. Drei Jahre später konnte Pohl sein Dokumentarprojekt abschließen und obwohl schon einige Male aufgeführt, fand der Film erst in diesem Sommer bei der Jubiläumsgala des digitalen Minifeuilletons „Berliner Gazette“ ein weiter gefächertes Feedback. Nicht ohne Grund, denn Pohls Dokumentation ist in keinem Videoverleih zu erhalten. Und auch Förderungen sieht er eher kritisch: Beim Talentcampus der Berlinale, dessen Bewerbungsfristen am 1. November ablaufen, wird er keinen Film einreichen.

Um die Ausgangsfrage nach Beständigkeit zu illustrieren, brauchte Pohl nicht lange zu suchen. Bei ihm sind es die Auswirkungen des Gentrifizierungsprozesses, wie er sich zur Jahrtausendwende zugetragen hat, die im Mittelpunkt stehen. Die Mauer war gefallen, Berlin schuf sich wie der Phoenix aus der Asche neu. „Künstler, Filmemacher und geistige Pioniere entdeckten den Freiraum, den Berlin-Mitte damals bot“, schildert Pohl.

Auf eigenartige Weise brachten diese Pioniergeister neues Leben in das zerfallende Umfeld. Aus Bruchbuden mit zerfledderten Ledersofas entstanden Kulissen einer Subkultur, die weit über die Stadtgrenzen hinaus ein Berlin-Etikett prägten. Und nachhaltig prägen. Nachdem Finanziers erkannten, dass sich die neue alte Mitte Berlins durch Investitionen verkommerzialisieren ließ, steigerten umfangreiche Sanierungs- und Modernisierungsprojekte die Mietpreise in gewaltige Höhen. Schon bald waren die einstigen Eroberer und Entdecker gezwungen, ihre eigenhändig geschaffenen Orte zu räumen und bei der Gestaltung einer neuen Stadtkulturlandschaft zuzusehen.

Aufstieg und Untergang früherer Mitte-Subkulturen werden im Film nicht bloß historisch abgebildet, sie ragen bis in die Gegenwart hinein: Interviewte Zeitzeugen werden mit Stadtlandschaften, Aufnahmen von Aktionen und Alltagssituationen kombiniert. Deshalb vergleicht Pohl sein Projekt mit einer „impressionistischen Kollage, dessen poetische Ebene von einer dokumentarischen Ebene durchbrochen wird“.

Exemplarisch steht dabei das „Haus des Lehrers“ am Alexanderplatz als Identitätsstifter für Mitglieder einer autonomen Szene, aber auch als Sinnbild für den Verlust eines eigenen Standorts. Seiner ursprünglichen Funktion als „Kulturhaus für Pädagogen“ – so die Bezeichnung zu DDR-Zeiten – entledigt, diente der Freiraum knapp zwei Jahre einer Gemeinschaft von Künstlern. Später wurde mit der Installation „Blinkenlights“ das größte interaktive Computerdisplay der damaligen Zeit geschaffen. Die Räumung des Gebäudes und das Ende von „Blinkenlights“ wurden schließlich mit einer potenziellen Brandgefahr begründet, die angeblich vom Kabelwerk der Installation ausging.

Bei solchen Rückblicken ist dem Filmemacher nicht an einer objektiv ausgearbeiteten Dokumentation gelegen. Wie auch sollte ein Lebensgefühl den Rang der Objektivität erlangen? Vielmehr glaubt Pohl, ein „kleines Stück Mythos Berlin“ zu kommunizieren; weshalb der Film für ihn auch „seine größte Kraft bei Menschen entfaltet, die keine eingeborenen Berliner sind“.

Dazu gehört auch der Niederländer Iepe B. T. Rubingh, dessen Performances weltweit für Furore sorgen. Mit der Videokamera hat Pohl dessen Aktion „Narrenschiff“ begleitet und diese Mitschnitte an zentraler Stelle in die Dokumentation einfließen lassen. Sein mit Künstlern und Aktivisten besetztes Schiff sieht Rubingh als Zeichen gegen die Verdrängung der autonomen Szene. In Anlehnung an Michel Foucaults Studien zum Wahnsinn ist das „Narrenschiff“ beladen mit Menschen, die nicht mehr benötigt werden und in Rubinghs Fall kaum anders als als Abfall in die Hacke’schen Höfe abtransportiert wurden – zumindest im Sinne der Performance.

Als Thema beschäftigt die autonome Szene den Filmemacher weiterhin. Pohl strebt eine Fortsetzung an, die sich mit den veränderten Geisteshaltungen und Lebensentwürfen der alten Aktivisten befassen wird: „Wohin haben sie sich bewegt? Wie sehen ihre Ideale heute aus? Wofür gehen sie noch auf die Straße?“, das sollen Fragen sein, die er sich mit dem Abstand von fünf Jahren noch einmal stellen wird. Antworten dürfte es in Pohls neuem Filmprojekt wohl ebenfalls nicht geben, war ihm doch schon in „Noerdliche Breite – Oestliche Laenge“ daran gelegen, „dass der Zuschauer seinen Kopf, sein Erlebtes und Geschehenes einbringt“. In der Schlusssequenz spricht der Erzähler zum zweiten und letzten Mal: Er schildert eine Stadt, in der „die Bevölkerung unverweilt sich erhebt, gegen die nimmersatte Anmaßung der gewählten Führer“. Welche Stadt gemeint ist, bleibt dem Zuschauer bedingt selbst überlassen. Erneut steigen die tiefschwarzen Vögel empor. Anmutig gleiten ihre Silhouetten einem orangefarbenen Sonneuntergang entgegen. Und für einen Moment ist die traurige Wahrheit gewiss: Ein Stück der, wenn auch nur kulissenhaften Subkultur haben sie bereits mit sich genommen, in andere Teile dieser Welt.

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