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Der Opa, der nicht mehr zu sehen war

porträt Ethnografie, Biografie, Oral History: Die Künstlerin Sonya Schönberger sammelt Geschichtenund findet für das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit immer wieder neue Formen

von Michael Freerix

Die Wilhelm-Kabus-Straße wurde 2010 eröffnet. Sie durchzieht ein historisches Gewerbegebiet in Schöneberg, um es besser zugänglich zu machen. Verwitterte Altbauten aus Backstein säumen die neue Asphalt­straße. In einem von diesen Altbauten, der zu einem Atelierhaus umfunktioniert wurde, hat die Künstlerin Sonya Schönberger vor einem Jahr ihr Atelier bezogen.

„Das ganze Gelände hier wurde vom Investoren Nicolas Berggruen gekauft“, erzählt sie gleich zu Beginn. Bislang zahlt die Künstlerin mithilfe des Bundes Berliner Künstler eine moderate Miete, „doch was der mit dem ganzen Areal vorhat, weiß keiner“, meint sie skeptisch. Doch Wilhelm Kabus? Wer war das eigentlich? Im übertragenen Sinne ist das eine von vielen Fragen, denen Schönberger in ihrer Kunst nachgeht.

Ihr Atelier hat etwas Spartanisches. Die Wände sind hell gestrichen. Viel Licht kommt durch die breite Fensterfront. Nur wenig Arbeitsmaterial findet sich auf einem großen Arbeitstisch in der Mitte des großen und hohen Raumes. Auf vereinzelten Regalen sind rostige Metallstücke oder Keramikscherben gelagert. Es sind Fundstücke, die Sonya Schönberger auf Brachen, in Parks oder an Gewässern aufliest. Sie gräbt dazu nicht einmal in der Erde, sondern die einst verscharrten Sachen drängen geradezu an die Oberfläche. Sie „liebt solche Zufallsfunde“, weil sie erzählen, wie „Vergangenes immer Teil der Gegenwart“ ist, obwohl es im Verborgenen existiert.

Lebenslinien suchen

Sonya Schönberger ist Jahrgang 1975. Ihre Entwicklung zur Kunst hin begann über einen Umweg. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Ethnologie. Doch sie merkte, ihr reichte das nicht. Sie wechselte in die freie Kunst und ging nach Amsterdam. Schließlich kam sie nach Berlin, um Meisterschülerin bei dem Filmemacher Thomas Arslan zu werden, Professor an der Universität der Künste.

Bereits mit ihrem Diplomfilm „Auf der Suche“ macht sie transparent, wie sie ihr Thema, die Permanenz der Vergangenheit, anpackt. Vor den Dreharbeiten hatte sie lange Interviews mit ehemaligen Mitschülerinnen aus ihrem Heimatdorf geführt. Teile der Texte inszenierte sie mit Schauspielerinnen vor der Kamera, um die dokumentarischen Materialien neu zu kontextualisieren. Dafür nutzte sie die Medien Fotografie, Performance, Theater, Film. „Nur Malerei und Zeichnung eigentlich nicht“, merkt sie an.

Das ist der Versuch, zu den Wurzelnunserer Wirklichkeit vorzudringen

Bereits während des ethnografischen Studiums fand sie es interessant, Lebenslinien als Material für die künstlerische Auseinandersetzung mit Gesellschaft zu nutzen. Doch es gibt auch einen biografischen Anstoß im Leben von Sonya Schönberger, der sie zu ihrem künstlerischen Thema anregte. Es waren Fotografien ihres Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg, die sie zutiefst faszinierten. Sie hatte als Kind mit ihm viel Zeit verbracht, doch war er früh gestorben und niemand konnte sagen, wer diese Aufnahmen gemacht hatte und wer, neben ihrem Opa, darauf zu sehen war.

Das biografische Rätsel dieser Bilder machte sie zum Thema einer Ausstellung, 2012 in New York, später in Berlin. Doch anstatt die Fotos einfach nur zu zeigen, bat sie verschiedene Bekannte um Beschreibungen der Aufnahmen. Diese Texte wurden neben die Rückseite der Fotografien gehängt, zusammen mit anderen Fundstücken aus dem Nachlass ihres Großvaters. Auf diese Weise entstand für den Besucher ein befremdliches und doch persönliches Stück deutscher Geschichte.

Ihren komplexen Arbeitsansatz perfektioniert sie in ihrem Audio Walk „Rosemarie“. „Rosemarie“ besteht aus biografischen Interviews, die Schönberger mit ihr fremden Personen geführt hat und zu Monologen zusammenmontierte. In elf ausgewählten Lebensgeschichten geht es um den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach. Jeder Interviewte wurde bei Aufführungen (im September 2014 und 2015) von jeweils einem Schauspieler gesprochen, der dabei zusammen mit einem Zuhörer die Trümmerberglandschaft des Volksparks Prenzlauer Berg durchstreifte. So stellte „Rosemarie“ einen intimen Bezug zwischen einem vergangenen Leben mit der Gegenwart des Zuhörers her, in einer Landschaft, die aus Überbleibseln der Vergangenheit geformt wurde.

Vexierspiel

Ihr Vexierspiel mit biografischen Klustern erweiterte Schönberger noch in ihrer Beschäftigung mit Interviews von André Müller. André Müller, der mit 65 Jahren starb, war ein österreichischer Journalist, der in den siebziger und achtziger Jahren im Auftrag unterschiedlichster Printmedien namhafte Zeitgenossen interviewte. Sammlungen dieser Gespräche sind als Bücher erschienen. Müller, der seine Interviews als „Entblößungen“ verstand, hatte 1979 lange mit dem Bildhauer Arno Breker geredet. Breker hatte in den zwanziger Jahren zwar in Paris gelebt und sich der Moderne zugeordnet, war 1934 allerdings ins Deutsche Reich gezogen und hatte sich von Adolf Hitler protegieren lassen. Die NS-Propaganda kürte ihn 1938 zum „bedeutendsten deutschen Bildhauer der Gegenwart“.

Schönberger arbeitete mit dem ungekürzten Interviewtext und hatte die Gelegenheit, diesen im Mai 2015 in Brekers ehemaligem Atelier in Berlin-Grunewald zu inszenieren. Die beiden Positionen Breker/Müller besetzte sie mit Frauen, so dass eine große Distanz zum ursprünglichen Text entstand. Der sprachliche Ringkampf zwischen den beiden Protagonisten wird bei ihr zu einer Form der Selbstfiktionalisierung, weg von dem Paar Breker/Müller, hin zur Frage, was wir aus der Vergangenheit bewusst in unsere Gegenwart mit hineinnehmen. Und was für eine Gegenwart wir daraus konstruieren.

Dieses Wühlen in individuellen Lebensgeschichten und die Befragung derer, die normalerweise nicht gefragt werden, ist für Schönberger der Versuch zu verstehen, „wer die eigene Generation ist, warum wir sind, wie wir sind, und in was für einem Land wir leben“. Was wie eine moderne Form von Dokumentartheater anmutet, ist der Versuch, zu den Wurzeln unserer Wirklichkeit vorzudringen. „Mein Ziel ist es“, so meint die Künstlerin abschließend, „aus allen Gesprächen, die ich führe, eine Art oraler Bibliothek zusammenzufügen, ein Gedächtnis des Alltags.“

In diese wäre auch Wilhelm Kabus einzufügen. Der war, in den 70er Jahren, Ingenieur und Bezirksbürgermeister von Schöneberg. Und wurde so zum Namensgeber einer Straße in diesem Bezirk. Uns aber bewusst zu machen, was die vielen Namenlosen der Vergangenheit für unsere Gegenwart bedeuten, damit befasst sich Sonya Schönberger.

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